0394 - Die Unheimliche vom Schandturm
von mächtigen Grabsteinen und Platten.
Manchmal strich ein Windhauch durch die Kronen. Dann raschelten die Blätter, was Erna Schmitz an das Flüstern geheimnisvoller Stimmen erinnerte.
Sie ging weiter.
Eine Gänsehaut hatte sie bekommen. Zum erstenmal kam ihr der Friedhof richtig unheimlich vor. Es hätten nur noch irgendwelche gespenstischen Wesen gefehlt, die plötzlich zwischen den Grabreihen erschienen.
Das geschah nicht.
Dafür erreichte die Frau das Ende des Weges und gewissermaßen auch den Rand des Friedhofs. Hinter den in einer langen Reihe und halbkreisförmig verlaufenen Gräbern lag die Grenze. Zur Straße hin abgeschottet durch dicht wachsendes Buschwerk und hohe Bäume.
Ganz in der Nähe lag auch die letzte Ruhestätte der Familie Ricardis, über die man sich einiges erzählte. Erna wußte auch nicht, weshalb sie gerade in diesen Momenten daran dachte.
Sie ging die wenigen Schritte bis zum Grab ihres Mannes und blieb davor stehen.
Es war eine schmucklose Gruft. Ein hoher Stein ohne viel Schnörkel und auch ohne Eingravierungen. Bis auf die Namen der hier begrabenen Toten. Erna blieb vor dem Grab stehen. Sie hatte den Kopf gesenkt, schaute auf die breite Fläche und sah auch die Blumen vom vergangenen Tag, die noch in der Vase steckten und fast frisch aussahen.
Ihre Lippen bewegten sich.
Es sollte ein stummes Gebet werden, aber es wollte ihr nicht so recht gelingen, denn irgend etwas befand sich in ihrer Nähe, das sie störte.
Erna Schmitz drehte sich um.
Sie tat es sehr langsam. Auf ihrer bleichen Haut lag ein Schauer.
Aus der Tasche holte sie ihre Brille und setzte sie auf. Meistens konnte sie sich auf ihre Gefühle verlassen, und auch hier glaubte sie fest daran, daß jemand nicht weit entfernt irgendwo zwischen den Büschen hockte und sie belauerte.
Natürlich hatte sie von den Friedhofs-Banditen gehört, die alten Menschen auflauerten und sie überfielen. Das war es nicht. Etwas anderes lauerte auf sie.
Seufzend drang ein langer Atemzug über ihre Lippen, als sie sich wieder dem Grab zuwandte. »Wenn du mir doch etwas sagen könntest, Edwin, wäre mir viel wohler!«
Aber Edwin schwieg.
Sie sprach weiter mit ihm, erzählte von den beiden Kindern, die außerhalb wohnten. Die Tochter sogar in den Staaten, wohin sie vor acht Jahren ausgewandert war.
»Sie lädt mich ja immer ein, aber ich will nicht verreisen. Ich kann dich doch in dieser kalten Erde nicht allein lassen, mein Lieber. Aber irgendwann sind wir wieder vereint. Das spüre ich. Bald wird der Tag kommen, glaube es mir. Morgen bringe ich dir wieder frische Blumen mit.«
Urplötzlich hörte sie auf zu sprechen.
Hatte sie auf ihrem Gang zum Grab die Kühle schon einmal verspürt, so fand sie diese nun als regelrecht erschreckend. Ihr kam es vor, als wären dort Arme, die wie Nebelschleier kalt über ihr Gesicht strichen und sie auch an den Lippen berührten.
Rasch trat sie einen Schritt zurück.
Die Kälte blieb. Aus einer Gruft oder einem tiefen Grab schien sie zu kommen, und sie hatte sich ausgerechnet die einsam stehende alte Frau ausgesucht.
Deren Augen veränderten sich hinter den Brillengläsern. Sie wurden groß, als sie auf der rechten Seite der langen Grabreihe die dünnen Nebelwolken sah, die vom Boden her in die Höhe stiegen und sich pilzartig über die Nachbargräber ausbreiteten.
Dieser Vorgang, für den Erna keine Erklärung fand, mußte etwas mit der Kühle zu tun haben.
Sie dachte daran, daß die Toten zurückkamen oder deren Seelen sich über den Gräbern vereinigten. Es war nur ein kurzer Gedanke, dann schaltete sie ihn ab, denn so etwas war unmöglich.
»Entschuldige, Edwin, aber ich muß einmal nachschauen, was sich da tut. So einfach kann ich es nicht hinnehmen, wirklich nicht. Ich komme gleich wieder«, versprach sie.
Und dann ging sie.
Zögernd, denn sie hatte plötzlich Angst vor der eigenen Courage bekommen, und sie sah auch, daß sich die Dunstwolken über den Grüften verdichtet hatten.
Wie Wolken wirkten sie, in denen sich sehr schwach eine Gestalt abzeichnete.
Zuerst glaubte sie an eine Täuschung und blieb zunächst stehen, um sich zu überzeugen.
Tatsächlich, da war eine Gestalt im Nebel! Unförmig, klumpig, aber trotzdem zu erkennen, und als sie genauer hinschaute und dabei sah, wie sich die Gestalt allmählich aus den grauweißen Schleiern schälte, konnte dies auch von ihr identifiziert werden.
Es war ein Pferd!
Zuerst wollte sie laut lachen, und sie glaubte auch an eine
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