0394 - Die Unheimliche vom Schandturm
war tot, ist als Tote zurückgekommen und hat gemordet. Wenn sie zurückgekommen ist, muß sie auch zuvor irgendwo gelegen haben. Ich meine, wir sollten ihr Grab aufsuchen.«
Will schaute mich an, ich ihn, und nur Herkner blickte zu Boden.
Vielleicht gefiel es ihm nicht, daß gerade von dieser Kleinen so gute Vorschläge kamen.
»Sie ist schon kein Assistent mehr«, sagte ich. »Petra können Sie ruhig an die harte Front schicken.«
Sie winkte ab. »Es war Glück.«
»Wenn Sie mir jetzt sagen könnten, ob Gertrude Ricardis’ Grab noch heute existiert, finde ich Sie noch toller, kleine Petra.«
Sie atmete tief ein und beschwerte sich. »Immer auf die Kleinen. Aber ich bin das gewohnt. Das Grab gibt es noch. Das heißt, es ist eine Familiengruft und steht sogar unter Denkmalsschutz…«
Wir blickten uns gegenseitig an.
»Kann es noch besser kommen?« fragte Will.
»Nein.«
»Dann auf zum Friedhof«, sagte ich.
Oberkommissar Herkner wies in die Höhe und auf die Leiche.
»Moment noch, meine Herren. Ich will, daß der Tote aus der Schlinge gehoben wird und alarmiere die Mordkommission.«
Das war selbstverständlich.
Im Turm hatten wir nichts mehr zu suchen. Hier würden wir keine Gertrude Ricardis finden, und falls wir an der Gruft auch Pech hatten, blieb uns nur noch die Finsternis, durch die sie auf ihrem Schimmel ritt.
Hoffentlich ging uns dieses mordende Gespenst nicht durch die Lappen.
***
Seit zwei Jahren ging Erna Schmitz jeden Tag den gleichen Weg zum Grab ihres verstorbenen Mannes. Sie war jetzt 70, wohnte in einem Heim für Senioren und freute sich auf den Gang über den stillen Friedhof, der als einziger einem Menschen Ruhe gab, wenn dieser sie suchte.
Erna sprach oft mit sich selbst. Sie redete laut über Dinge, die sie noch tun wollte und fragte dann mit halblauter Stimme gegen den Himmel gerichtet: »Würdest du das auch tun, Edwin?«
Eine Antwort bekam sie nicht. Wenigstens keine, die hörbar war.
Aber für Erna reichte sie, denn Sekunden nach ihren Fragen nickte sie, und ein glückliches Lächeln glitt jedesmal über ihr Gesicht, weil sie mit Edwin gesprochen hatte.
Für sie existierte er noch, auch wenn er körperlich nicht mehr bei ihr war. Aber sie glaubte fest daran, daß er unsichtbar in ihrer Nähe weilte und sie beschützte.
Irgendwann würde er sie zu sich rufen, und darauf wartete sie, denn Angst kannte sie nicht.
Jeden Tag begegneten Erna Schmitz die gleichen Leute. Der Friedhofsgärtner ebenso wie die anderen Witwen oder Witwer, die Gräber ihrer Angehörigen besuchten.
Man blieb kurz stehen, wechselte einige Worte, sprach über das Wetter oder die Verblichenen und kam schließlich auf Krankheiten zu sprechen, denn jeder hatte irgend etwas.
Auch an diesem herrlichen Sommertag war es für Erna Schmitz nicht anders.
Erna Schmitz hatte die 70 zwar schon erreicht, man sah es ihr aber nicht an. Da sie eine gute Rente bekam, besaß sie auch das entsprechende Geld, um sich zu pflegen. Einmal in der Woche war sie beim Friseur, der ihr graues Haar zu einer schicken Frisur legte.
Die größeren Gräberfelder blieben zurück und damit auch die gewisse Leere. Schon bald boten hohe Bäume kühlenden Schatten, und die Wege waren auch nicht mehr mit Kies bestreut. Erna Schmitz schritt über die weiche Erde, die vom letzten Regen noch ein wenig feucht war.
Rechts und links erschienen die ersten Grüften. Große Steine, die in die Höhe ragten. Auch breite Platten stachen fußhoch aus dem Boden. Hier und da brannte eine kleine Lampe. Manche Gräber waren auch mit frischen Blumen geschmückt.
Erna hatte an diesem Tag keine mitgenommen: Die gestrigen würden noch halten. Erst am nächsten Tag wollte sie frische in die beiden schmalen Vasen stellen.
Uralte Kölner Familien hatten in dieser Ecke des Friedhofs ihre letzte Ruhestätte gefunden. Es waren bekannte Familien darunter, deren Nachkommen auch jetzt noch in der Stadt lebten und auch einiges zu sagen hatten.
Es wurde noch kühler.
Und das wunderte die Frau.
Der Herbst lag zwar nahe, aber nach wie vor stand eine warme Sonne am Himmel, und soviel Wärme hielten die Bäume hier auch nicht ab. Die Kühle war nicht natürlich.
Soviel wußte die Frau, ohne allerdings über irgendwelche Konsequenzen nachzudenken, denn eine Erklärung für dieses Phänomen hatte sie nicht. Sie spürte nur etwas.
Erstens die Leere. Menschen befanden sich im Augenblick nicht in der Nähe. Und die Toten waren ruhig. Sie lagen in der Erde, geschützt
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