04 - Die Tote im Klosterbrunnen
daß sie nach ihrer ergebnislosen Durchsuchung der Höhle unter der Abtei ins Gästehaus zurückgekehrt, völlig erschöpft in ihrer Kammer ins Bett gefallen und augenblicklich eingeschlafen war. Sie spähte durch das Fenster nach draußen, wo noch kein nächtliches Dunkel herrschte, sondern das Dämmerlicht eines frühen Winterabends. Fidelma schätzte, daß ihr bis zum abendlichen Ángelus noch reichlich Zeit blieb. Sie benetzte ihr Gesicht mit kaltem Wasser und trocknete sich ab. Da sie in Kleidern geschlafen hatte, fror sie jetzt empfindlich, und sie reckte sich und ruderte mit den Armen, um sich zu wärmen. Sie hatte Hunger. Verärgert stellte sie fest, daß sie nun auch noch das Mittagessen verpaßt hatte.
Sie lief durch den von Kerzen beleuchteten Gang in Richtung Aufenthaltsraum, in der Hoffnung, daß niemand ihre Abwesenheit bemerkt hatte. Zu ihrer Überraschung sah sie auf dem Tisch ein Tuch, und sie ahnte fast schon, was sich darunter verbarg, als sie es aufdeckte – Essen für sie.
Schwester Brónach!
Der doirseór der Abtei entging aber auch gar nichts, dachte Fidelma, und das bereitete ihr Kopfzerbrechen. Schwester Brónach wußte also, daß sie in der vergangenen Nacht unterwegs gewesen war, und wußte folglich auch, daß sie einen Großteil des Tages in tiefem Erschöpfungsschlaf gelegen hatte, um sich zu erholen. Wenn Schwester Brónach nicht an der Planung des Aufstandes gegen Cashel beteiligt, wenn sie dem König von Cashel also treu ergeben war, dann gab es keinen Grund zur Besorgnis. Doch Schwester Fidelma wußte nicht, wem sie hier im Land der Beara noch wirklich trauen konnte. Letztendlich würden doch alle ihren Häuptling Gulban unterstützen.
Sie setzte sich und stillte ihren Hunger mit den Speisen, die Schwester Brónach für sie aufgehoben hatte. Erfrischt und gestärkt verließ sie das Gästehaus, gerade als der Gong die volle Stunde schlug und die Glocke die Gemeinschaft zum Abendgebet rief. Man hatte nicht lange gebraucht, um die Klepsydra wieder richtig einzustellen – zweifellos Schwester Brónachs Verdienst. Nach der Ermordung von Schwester Síomha bedurfte es jetzt sicher einer mutigen Seele, um die langen Stunden der Nachtwache oben im Turm durchzustehen.
Fidelma drückte sich in eine dunkle Ecke, als die Schwestern in Gruppen, gelegentlich auch einzeln, dem Ruf der Glocke folgten und eilig in die duirthech strebten. Sie hatte sich ganz automatisch im Halbdunkel verborgen, aber im selben Augenblick schoß ihr ein Gedanke durch den Kopf. Sie wollte die Zeit nutzen, um sich auf das gallische Schiff zu stehlen und Eadulf um Hilfe zu bitten. In ihrem Geiste begann der nächste Schritt der Untersuchung bereits Gestalt anzunehmen.
Fidelma wartete, bis sich die Stimmen der Andächtigen gemeinsam zum Confíteor erhoben, dem allgemeinen Schuldbekenntnis, das dem Abendgebet stets vorausging. Der Name war vom Anfangswort des Textes abgeleitet. Dann schlich sie zwischen den Gebäuden der Abtei zum Kai hinunter.
Auf dem gallischen Schiff, weit draußen in der Bucht, blinkten zwei Laternen. Es war ziemlich dunkel, doch das störte Fidelma nicht. Sie fand das kleine Ruderboot, kletterte hinein, löste die Vertäuung und stieß sich an der Seite des hölzernen Anlegestegs ab. Kurz darauf hatte sie die Ruder ins Wasser getaucht und glitt mit regelmäßigen Schlägen hinaus zum Schiff.
Es war ein stiller Abend, und durch die tiefhängenden Wolken wirkte die Dunkelheit noch schwärzer. Nicht einmal die Geräusche der Nachtvögel oder das Plätschern eines Meeresbewohners drangen an ihr Ohr. Nur ihre Ruderschläge durchbrachen die Stille.
»Ahoi!«
Das war Odar, der sie anrief, als sie sich dem Schiff näherte.
»Ich bin’s! Fidelma!« antwortete sie und kam mit ihrem Boot längsseits.
Hilfsbereite Hände streckten sich ihr entgegen, um ihr an Bord zu helfen und ihr Boot zu vertäuen.
An Deck hießen Odar und Eadulf sie willkommen.
»Wir haben uns Sorgen um Euch gemacht«, sagte Eadulf mit belegter Stimme. »Wir hatten heute nachmittag Besuch.«
»Olcán?« fragte Fidelma neugierig.
Odar nickte. »Woher wußtet Ihr das?«
»Er war auch in der Abtei, um herumzuschnüffeln. Ich glaube, er weiß bereits, daß Eadulf und Comnat entflohen sind. Ganz besonders interessierte ihn, wohin Ross gefahren war.«
»Ich habe ihm von Anfang an nicht getraut«, bestätigte Odar. »Wir haben Bruder Eadulf unten versteckt, solange er an Bord war.«
»Hat er Verdacht geschöpft?«
»Nein«,
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