04 - Die Tote im Klosterbrunnen
Schulter getragen.
Fidelma merkte nicht, daß Ross am Fuße des Niederganges ungeduldig wartete.
Sie nahm die Tasche vom Haken und griff hinein. Darin befand sich eine kleine Pergamenthandschrift.
Plötzlich begann ihr Herz zu rasen, ihr Mund wurde trocken, sie blieb wie angewurzelt stehen. Das Blut hämmerte gegen ihre Schläfen. Einen Augenblick lang glaubte sie sich einer Ohnmacht nahe. Das Buch mit den pergamentenen Seiten war eine kleine, unscheinbare Handschrift, in schweres Kalbsleder gebunden, das mit hübschen Mustern aus Spiralen und Kreisen geprägt war. Fidelma wußte, daß es sich um ein Meßbuch handelte, noch bevor sie die Titelseite aufschlug. Sie wußte auch, welche Widmung sie dort finden würde.
Es war jetzt über zwölf Monate her, daß Schwester Fidelma dieses Buch zum letzten Mal in ihren Händen gehalten hatte: an einem warmen Sommerabend in Rom, in dem von Kräuterduft erfüllten Garten des Lateranpalastes. Es war der Abend, bevor sie Rom verließ und nach Irland zurückkehrte. Sie hatte das Buch Bruder Eadulf von Seaxmund’s Ham überreicht, ihrem Freund und wagemutigen Gefährten, einem Sachsen aus dem Land des Südvolkes. Bruder Eadulf, der ihr geholfen hatte, den rätselhaften Mord an Äbtissin Etain in Whitby aufzuklären und danach, in Rom, den Mord an Wighard, dem designierten Erzbischof von Canterbury.
Das Buch, das sie nun hier, auf diesem geheimnisvollen, verlassenen Schiff, wiedergefunden hatte, war ihr Abschiedsgeschenk an ihren engsten Freund und Gefährten. Ein Geschenk, das ihnen beiden so viel bedeutet hatte, damals, bei jenem traurigen Abschied.
Fidelma spürte, wie die Kajüte zu schwanken und sich zu drehen begann. Sie versuchte, die Gedanken, die ihr durch den Kopf schossen, zu besänftigen und der fürchterlichen Angst, die ihr den Atem nahm, mit vernünftigen Argumenten zu begegnen. Benommen taumelte sie rückwärts und brach unvermittelt über der Koje zusammen.
K APITEL 3
»Schwester Fidelma! Alles in Ordnung?«
Ross’ Gesicht näherte sich dem Fidelmas, als sie die Augen aufschlug. Sie blinzelte. Sie war nicht wirklich ohnmächtig geworden, bloß … sie blinzelte erneut und schalt sich insgeheim dafür, Schwäche gezeigt zu haben. Das war aber auch eine böse Überraschung! Was hatte dieses Buch, ihr Abschiedsgeschenk für Bruder Eadulf damals in Rom, jetzt in der Kajüte eines verlassenen gallischen Handelsschiffes vor der Küste von Muman zu suchen? Sie wußte, daß Eadulf sich nicht so ohne weiteres davon trennen würde. Und wenn dem so war, dann mußte er hier in der Kajüte gewesen sein, als Passagier auf diesem Handelsschiff.
»Schwester Fidelma!«
Ross’ Stimme überschlug sich vor Aufregung.
»Es tut mir leid«, erwiderte Fidelma langsam und erhob sich vorsichtig. Ross beugte sich vor, um ihr zu helfen.
»Ist Euch schwindelig geworden?« erkundigte er sich.
Sie schüttelte den Kopf. Erneut schalt sie sich dafür, daß sie ihre Gefühle so deutlich gezeigt hatte. Doch wäre es nicht ein noch größerer Selbstbetrug, sie zu verleugnen? Seit ihrem Abschied von Eadulf von Seaxmund’s Ham hatte sie ihre Gefühle für ihn unterdrückt. Er blieb damals als Sekretär von Theodor von Tarsus, dem neu ernannten Erzbischof von Canterbury, in Rom, während sie in ihre Heimat zurückkehrte.
Doch das vergangene Jahr war erfüllt gewesen von den Erinnerungen an ihn, von Einsamkeit und von Sehnsucht, von einer Art Heimweh nach ihm. Sie war wieder zu Hause, in ihrer Heimat, bei ihrem Volk, doch sie vermißte Eadulf. Sie vermißte ihre Streitgespräche, die Art, wie sie ihn wegen ihrer gegensätzlichen Ansichten und Weltanschauungen necken konnte, die Art, wie er ihr in seiner Gutmütigkeit immer wieder auf den Leim ging. Es gab zwischen ihnen heftige Meinungsverschiedenheiten, jedoch keinerlei Feindseligkeit.
Eadulf von Seaxmund’s Ham hatte in Irland studiert, in Durrow und später in Tuaim Brecain, bevor er sich in Glaubensfragen der Vorherrschaft Roms unterwarf und die Lehren des Heiligen Columban ablehnte.
Er war der einzige Mann in ihrem Alter, in dessen Gesellschaft sie sich wirklich wohlfühlte und sich ungezwungen verhalten konnte, ohne sich hinter ihrem Rang und dem Amt, das sie bekleidete, zu verstecken und ohne eine bestimmte Rolle spielen zu müssen, wie eine Schauspielerin in einem Theaterstück.
Eines wurde ihr jetzt klar: ihre Gefühle für Eadulf waren nicht nur rein freundschaftlicher Natur.
Ihr Abschiedsgeschenk an ihn nun herrenlos auf
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