04 - Die Tote im Klosterbrunnen
…«
Diesmal sprang Draigen auf und begann lautstark zu protestieren, doch Beccans strenger Tonfall brachte sie zum Schweigen.
»Ich sagte bereits, daß Ihr später Gelegenheit haben werdet, etwas zu entgegnen. Unterlaßt fortan weitere Unterbrechungen. Andernfalls steht es in meinem Ermessen, wegen Mißachtung des Gerichtes eine Geldstrafe gegen Euch zu verhängen.«
Entrüstet setzte sich Äbtissin Draigen wieder auf ihren Platz, und Fidelma ergriff mit einer gebieterischen Handbewegung erneut das Wort. »Es waren viele Geschichten in Umlauf, die meist aus Gehässigkeit oder, wie ich herausfand, aus anderen finsteren Motiven erfunden wurden. Hätte sich Draigen eines solchen Verbrechens schuldig gemacht, so hätte sie wohl kaum Abt Broce gebeten, einen dálaigh zu entsenden, um den Mordfall aufzuklären. Andererseits stellte sich heraus, daß die Äbtissin die Bußvorschriften Roms unseren weltlichen Gesetzen vorzieht. Dieser Widerspruch beschäftigte mich von Anfang an, bis ich begriff, daß die Lösung ganz einfach war und Draigen selbst ganz offen dazu stand: sie hatte Broce nur deshalb um die Entsendung eines dálaigh gebeten, weil sie verhindern wollte, daß ihr Bruder Adnár, der örtliche Friedensrichter, kraft seines Amtes Vollmachten in der Abtei erhielt.«
Die Äbtissin warf Fidelma einen finsteren Blick zu, enthielt sich jedoch jeden Kommentars. Die dálaigh fuhr fort.
»Meine Ermittlungen konzentrierten sich zunächst darauf, die Identität der ersten Toten festzustellen. Es handelte sich um den Leichnam eines jungen Mädchens, dessen Daumen, Zeigefinger und kleiner Finger eine blaue Färbung aufwiesen – ein typisches Merkmal bei jemandem, der sich mit der Kunst des Schreibens beschäftigt. Als ich erfuhr, daß zwei Schwestern aus der Abtei, Schwester Comnat, die Bibliothekarin, und Schwester Almu, ihre junge Gehilfin, vermißt wurden, vermutete ich sofort, die letztere könnte die Tote sein. Die beiden waren drei Wochen zuvor zu einem Kloster in Ard Fhearta aufgebrochen und noch nicht zurückgekehrt. Kurz und gut, mein Verdacht erwies sich als zutreffend: Es handelte sich tatsächlich um Almus Leichnam.
Nachdem die Identität der Toten geklärt war, mußte die nächste Frage lauten: Welches Motiv gab es für den Mord? Warum und wie war Schwester Almu in die Abtei zurückgekehrt? Warum hatte man ihr, nachdem sie ermordet wurde, den Kopf abgeschnitten? Und was hatten die heidnischen Symbole zu bedeuten? Am Körper der Toten fand ich drei weitere Hinweise: Sie war vor ihrem Tod in Ketten gelegt worden, man hatte sie offensichtlich mißhandelt, und an ihren Füßen sowie unter den Fingernägeln entdeckte ich rotbraunen Schlamm. Schwester Brónach erklärte mir, dieser Schlamm sei typisch für die kupferreiche Gegend hier. Nicht wahr, Schwester Brónach?«
Die Schwester mit der mürrischen Miene erhob sich von ihrem Sitz, nickte zur Bestätigung und nahm wieder Platz.
»Noch rätselhafter und verwirrender war der Mord an Schwester Síomha. Ihr Leichnam wurde im Turm gefunden, ebenfalls enthauptet und mit den gleichen Symbolen versehen. Diesmal war die Tote nicht entkleidet. Der Mörder wußte, daß wir sie erkennen würden, und vielleicht wollte er das ja auch. Wozu die Symbole? Wozu das Abschneiden der Köpfe? Was mich jedoch am meisten beschäftigte, war die Tatsache, daß sich unter ihren Fingernägeln der gleiche rötlich-braune Schlamm befand. Wenige Stunden zuvor, als ich Schwester Síomha zum letzten Mal lebend gesehen hatte, war er noch nicht dort gewesen.
Auf der Treppe, die aus dem Turm in den subterraneus hinunterführt, fand ich Spuren von Blut – Síomhas Blut. Ihr Mörder hatte ihr oben im Turm den Kopf abgeschnitten und ihn nach unten in die Höhle gebracht. Warum?
War hier ein Wahnsinniger am Werk? War das Tatmotiv Haß – Haß auf die Schwestern, die Abtei, die Äbtissin? Bruder Febal verspürt mit Sicherheit Haß auf das alles, besonders auf Äbtissin Draigen, seine frühere Ehefrau. Er war es auch, der mich davon zu überzeugen suchte, daß Draigen widernatürliche Beziehungen zu Novizinnen unterhielt. Febal trägt mehr als genug Haß in sich, um ihn zu so schrecklichen Morden zu treiben.«
Fidelma blickte über die Schulter zu Bruder Febal, der sie mit einem feindseligen Ausdruck auf seinem anziehenden Gesicht anstarrte.
»Febals Anschuldigungen gegen Draigen waren frei erfunden.«
Zum ersten Mal zeigte sich eine Spur von Genugtuung auf Äbtissin Draigens
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