04 - Die Tote im Klosterbrunnen
Granit gepflasterten Innenhof herum angeordnet waren. In der Mitte des Hofes stand ein hohes Kreuz, und genau gegenüber einem großen, hölzernen Gebäude – duirthech oder Eichenhaus genannt –, das die Kapelle der Abtei beherbergte, lag der Kreuzgang. Überhaupt war die Mehrzahl der Häuser aus Holz gebaut, hauptsächlich aus Eichenholz, denn in der Umgebung wuchsen riesige Eichenwälder. Die wenigen Gebäude aus Stein dienten, so vermutete Fidelma zumindest, als Vorratsräume. An einem Ende der duirthech erhob sich ein gedrungener Turm mit steinernem Fundament und hölzernem Aufbau, der alle anderen Häuser überragte.
Die Abtei Der Lachs aus den Drei Quellen unterschied sich kaum von vielen anderen, die Fidelma überall in den fünf Königreichen gesehen hatte. Es gab jedoch keine Außenmauern wie in den bedeutenderen Abteianlagen, zum Beispiel in Ros Ailithir. Während der Mahlzeit – bei der es gestattet war, sich leise zu unterhalten, ganz im Gegensatz zu anderen Klöstern, in denen ein lector Abschnitte aus den Evangelien vorlas – hatte Fidelma erfahren, daß die Gemeinschaft aus nur fünfzig Schwestern bestand. Unter der Leitung von Äbtissin Draigen widmeten sie sich hauptsächlich dem Betreiben einer Wasseruhr, mit deren Hilfe genau festgestellt werden konnte, wieviel Zeit verstrichen war. Die Abtei war außerdem stolz auf ihre Bibliothek, und ein Teil der Schwestern fertigte Kopien von Büchern für andere Abteien an. Man lebte hier ruhig und beschaulich und beschäftigte sich friedlich mit Studien und religiösen Betrachtungen.
»Nun, Schwester«, fragte die Äbtissin erneut, »möchtet Ihr den Leichnam sehen?«
»Ja«, stimmte Fidelma zu. »Obwohl ich überrascht bin, daß Ihr ihn noch nicht begraben habt. Wie viele Tage ist es her, seit er entdeckt wurde?«
Die Äbtissin geleitete Fidelma vom Refektorium über den Innenhof zu der hölzernen Kapelle.
»Vor sechs Tagen haben wir die Unglückliche aus unserem Brunnen gezogen. Hätte Eure Ankunft sich verzögert, dann hätten wir die Tote selbstverständlich begraben müssen. Es ist jedoch jetzt im Winter kalt genug, um den Leichnam eine Zeitlang aufzubewahren. Er liegt in einem kühlen Raum unter der Kapelle, einem subterraneus , der normalerweise zur Lagerung von Lebensmitteln dient. Angeblich befinden sich unter den Abteigebäuden noch weitere Höhlen. Doch selbst unter diesen Bedingungen könnten wir die Tote nicht ewig dort liegenlassen. Wir haben daher Vorkehrungen getroffen, sie morgen früh auf unserem Friedhof zu beerdigen.«
»Habt Ihr die Identität der Unglücklichen festgestellt?«
»Ich hatte gehofft, daß Ihr dieses Problem lösen werdet.«
Die Äbtissin führte sie durch den mit Steinen gepflasterten Kreuzgang, vorbei an der Kapelle zum Eingang eines kleinen Gebäudes, dessen Wände als Trockenmauern errichtet worden waren, indem man roh behauene Granitblöcke einfach übereinandergeschichtet hatte, ohne sie mit Mörtel zu verbinden. Bei dem Steinhaus, das als Anbau mit dem hölzernen Turm verbunden war, handelte es sich offensichtlich um einen Vorratsraum. Der durchdringende Geruch von getrockneten Kräutern und Gewürzen stach Fidelma in die Nase und raubte ihr den Atem, auch wenn der Duft angenehm erfrischend war.
Äbtissin Draigen ging hinüber zu einem Regal und holte einen Krug heraus. Dann nahm sie von einem Stapel zwei viereckige Leintücher und tränkte sie mit der Flüssigkeit aus dem Gefäß. Fidelma atmete den würzigen Duft von Lavendel ein. Mit ernster Miene reichte Äbtissin Draigen ihr das durchtränkte Tuch.
»Ihr werdet es brauchen, Schwester.«
Sie geleitete sie zu einer Ecke des Raumes, von wo eine Steintreppe hinunterführte in eine geräumige Höhle, etwa zehn Meter lang, sieben Meter breit und unter der gewölbten Decke über drei Meter hoch. Fidelma erblickte am Eingangsbogen Spuren, die sie zunächst für Schrammen hielt. Dann erkannte sie jedoch, daß es sich um die eingeritzten Umrisse eines Stieres handelte. Nein, das war kein Stier, eher ein Kalb. Äbtissin Draigen bemerkte ihren prüfenden Blick.
»Soviel wir wissen, diente dieser Ort früher als heidnische Kultstätte. Das gilt auch für den Brunnen, den Necht gesegnet hat. Es gibt hier noch Überreste aus uralten Zeiten, zum Beispiel die Zeichnung einer Kuh oder dergleichen.«
Fidelma bestätigte wortlos, daß sie das Gesagte zur Kenntnis genommen hatte. Unmittelbar jenseits des bogenförmigen Eingangs entdeckte sie eine andere Treppe, die
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