04 - Die Tote im Klosterbrunnen
nach oben ins Dunkel führte.
»Über diese Treppe gelangt man direkt hinauf in den Turm«, erklärte die Äbtissin, noch bevor Fidelma die naheliegende Frage formulieren konnte. »Dort befinden sich unsere bescheidene Bibliothek und – im obersten Stockwerk – unser ganzer Stolz … eine Wasseruhr.«
Sie gingen weiter und betraten die Höhle. Hier herrschte Eiseskälte. Nach Fidelmas Schätzung mußte der subterraneus an dieser Stelle unter dem Meeresspiegel liegen. Der Raum war beleuchtet. Das flackernde Licht stammte von vier großen Kerzen, die an den vier Ecken eines Tisches am anderen Ende der Höhle aufgestellt waren.
Niemand mußte Fidelma erklären, was dort auf dem Tisch unter dem Leinentuch lag. Der Umriß war leicht zu erkennen, wirkte jedoch verkürzt. Sie trat vorsichtig näher. Die Höhle war fast leer, nur vor einer Wand stapelten sich Kisten, und daneben standen Reihen von amphorae und irdenen Behältern, deren schwache Ausdünstungen darauf schließen ließen, daß sie zur Lagerung von Wein und Spirituosen benutzt wurden.
Mochte es auch noch so kalt sein – Äbtissin Draigen hatte recht. Fidelma konnte das Stück lavendelgetränkten Tuches gut gebrauchen. Obzwar Kräuter und andere Duftpflanzen um die Tote herum aufgestellt waren, war der beißende Gestank, der von dem bereits verwesenden Körper aufstieg, unverkennbar. Fidelma hielt unwillkürlich die Luft an und hob das Leintuch vor die Nase. Trotz des winterlichen Frostes roch der Leichnam stark nach Verwesung.
Äbtissin Draigen stand auf der anderen Seite der Toten und lächelte gequält hinter ihrem lavendelgetränkten Tuch hervor.
»Die Trauerfeier findet morgen bei Tagesanbruch statt, Schwester, das heißt, falls Ihr die Leiche nicht noch länger für Eure Untersuchung benötigt. Je schneller das erledigt ist desto besser.« Das war eher eine Feststellung als eine Frage.
Fidelma antwortete nicht, sondern riß sich zusammen und schlug das Leintuch zurück.
Wie oft Fidelma dem Tod auch begegnete – und gewaltsamer Tod war ihr keineswegs fremd –, jedes Mal verspürte sie Abscheu ob seiner Grausamkeit. Sie bemühte sich immer wieder, Leichen als etwas Abstraktes zu betrachten und sie sich nicht als lebende, empfindende Wesen vorzustellen, die geliebt, gelacht und das Leben genossen hatten. Sie preßte die Lippen fest zusammen und zwang sich, das weiße, verfaulende Fleisch in Augenschein zu nehmen.
»Wie Ihr feststellen werdet, Schwester«, betonte die Äbtissin überflüssigerweise, »wurde der Kopf abgetrennt. Deshalb war es uns auch nicht möglich, die Unglückliche zu identifizieren.«
Fidelmas Augen waren sofort zu der Wunde über dem Herzen gewandert.
»Zuerst wurde die Frau erstochen«, sagte sie halb zu sich selbst. »Der leichte Bluterguß beweist, daß ihr die Wunde nicht erst nach dem Tod zugefügt wurde. Sie wurde ins Herz gestochen und hinterher enthauptet.«
Äbtissin Draigen beobachtete die junge dálaigh mit teilnahmsloser Miene.
Fidelma zwang sich, das durchtrennte Fleisch um den Hals zu untersuchen. Dann trat sie zurück und betrachtete die Tote ganz.
»Eine junge Frau. Kaum über das Alter der Reife hinaus. Ich schätze, sie war höchstens achtzehn. Vielleicht jünger.«
Ihr Blick fiel auf eine Verfärbung der Haut am rechten Knöchel. Stirnrunzelnd untersuchte sie die Stelle genauer.
»War sie hier an das Brunnenseil gebunden?« fragte sie.
Äbtissin Draigen schüttelte den Kopf.
»Die Schwestern, die die Leiche gefunden haben, sagten, sie habe am linken Knöchel gehangen und sei dort festgebunden gewesen.«
Fidelma wandte ihre Aufmerksamkeit dem linken Knöchel zu und entdeckte dort leichte Schrammen und Dellen. In der Tat, die Kratzer sahen mehr nach Seilwunden aus, und es gab keine Blutergüsse, was bewies, daß das Seil unzweifelhaft erst nach dem Tod dort befestigt worden war. Nun untersuchte sie den rechten Knöchel nochmals eingehend. Nein, diese Abschürfungen waren noch zu Lebzeiten entstanden, aber nicht durch ein Seil oder eine Schnur. Um das Bein zog sich ein gleichmäßiger, etwa fünf Zentimeter breiter, verfärbter Streifen, dessen Haut eindeutig geschädigt wurde, solange das Mädchen noch lebte.
Sie wandte sich nun den Füßen zu. Die Fußsohlen waren dick mit Hornhaut bedeckt und wiesen zahllose Schnitte und Wunden auf. Offensichtlich hatte die Tote zu Lebzeiten nicht gerade ein müßiges Dasein geführt und wahrscheinlich nicht sehr oft Schuhe getragen. Die Zehennägel wirkten
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