04 - Die Tote im Klosterbrunnen
man gegen jemanden aussprechen konnte: »Möge Euch der fé bald vermessen.«
Es war still, während Fidelma dasaß, den Blick starr auf das Espenholz gerichtet.
Erst als sie einen leisen, aber gereizten Seufzer vernahm, regte sie sich, hob die Augen und sah die Äbtissin an.
Offensichtlich wußte Draigen genau, was der Stock zu bedeuten hatte, denn ihre Miene wirkte besorgt.
»Versteht Ihr jetzt, Fidelma von Kildare, warum ich dem hiesigen bó-aire nicht gestatten konnte, in dieser Angelegenheit seines Amtes als Friedensrichter zu walten? Versteht Ihr jetzt, warum ich Abt Broce eine Nachricht sandte, damit er einen dálaigh der Brehon-Gerichtsbarkeit schickt, der niemand anderem verantwortlich ist als dem König von Cashel?«
Fidelma erwiderte ihren Blick mit ernsten Augen.
»Ich verstehe, Mutter Oberin«, sagte sie ruhig. »Es gibt viel Böses hier. Viel Böses.«
Fidelma brauchte eine Weile, bis sie einschlafen konnte. Draußen fiel dichter Schnee, doch diesmal war es nicht die eisige Kälte in ihrer Kammer, die ihr das Einschlafen erschwerte. Es war auch nicht das Geheimnis der Toten ohne Kopf, das ihre Gedanken nicht zur Ruhe kommen ließ und sie wachhielt, während sie versuchte, ihre beklemmende Furcht zu beschwichtigen. Zweimal nahm sie das kleine Meßbuch vom Nachttisch, drehte es immer wieder um und um und starrte darauf, als wisse es die Antworten auf all ihre Fragen.
Was war mit Eadulf von Seaxmund’s Ham geschehen?
Vor mehr als zwölf Monaten hatte sie sich in Rom auf dem Kai nahe der Brücke von Probi von Eadulf verabschiedet und ihm dieses kleine Meßbuch geschenkt. Auf der ersten Seite stand ihre Widmung.
Zweimal hatte das Schicksal sie und Eadulf zusammengeführt, um den Tod von Mitgliedern ihrer jeweiligen Kirche zu untersuchen. Sie hatten festgestellt, daß sie trotz entgegengesetzter Charaktereigenschaften eine gegenseitige Anziehung verspürten und daß sich ihre Stärken bei der Suche nach Lösungen für die Probleme, die ihnen gestellt wurden, gut ergänzten. Dann kam für sie die Zeit, getrennte Wege zu gehen. Fidelma mußte in ihre Heimat zurückkehren, und Eadulf wurde zum scriptor und Berater von Theodor von Tarsus berufen, dem neu ernannten Erzbischof von Canterbury, Roms wichtigstem Vertreter in den sächsischen Königreichen. Theodor, selbst Grieche und erst vor kurzem zur Römischen Kirche übergetreten, brauchte jemanden, der ihn in die Feinheiten seiner neuen Aufgaben als Geistlicher einweihte. Obwohl Fidelma damals geglaubt hatte, sie werde Eadulf niemals wiedersehen, mußte sie feststellen, daß ihre Gedanken immer häufiger um ihre Erinnerungen an den sächsischen Mönch kreisten. Sie hatte sich einsam gefühlt und sich erst vor kurzem eingestanden, daß sie Eadulfs Gesellschaft vermißte.
Jetzt war sie mit einem Geheimnis konfrontiert, das für sie weitaus schlimmer war als alle anderen Rätsel, mit deren Lösung man sie bisher beauftragt hatte.
Warum hatte sich dieses kleine Meßbuch, ihr Abschiedsgeschenk für Eadulf, auf einem verlassenen gallischen Handelsschiff befunden, in einem ganz anderen Teil der Welt, vor der Südwestküste von Irland? War Eadulf als Passagier auf diesem Schiff gewesen? Wenn ja, wo war er jetzt? Wenn nicht, in wessen Besitz war das Buch zuletzt? Und warum sollte sich Eadulf von ihrem Geschenk getrennt haben?
Endlich, trotz der bohrenden Fragen in ihrem Kopf, wurde Fidelma vom Schlaf überwältigt.
K APITEL 5
Als Schwester Brónach Fidelma weckte, war es noch dunkel, doch am Himmel zeigten sich bereits die Vorboten der herannahenden Morgendämmerung. Eine Schüssel warmes Wasser war für ihre Morgentoilette bereitgestellt, und eine brennende Kerze sollte ihr diese Verrichtung erleichtern. Zu dieser frühen Stunde war es schneidend kalt. Fidelma hatte sich kaum angekleidet, da hörte sie langsames, harmonisches Glockenläuten, die traditionelle »Totenglocke«, die nach altem Brauch das Dahinscheiden einer christlichen Seele verkündete. Einen Augenblick später kehrte Schwester Brónach zurück, den Kopf gesenkt, die Augen zu Boden gerichtet.
»Zeit für die Totenmesse, Schwester«, flüsterte sie.
Fidelma nickte und folgte ihr aus dem Gästehaus in die duirthech , wo sich die Gemeinschaft vollständig versammelt zu haben schien. Sie war überrascht, daß der Schnee vom Vorabend auf dem Abteigelände geschmolzen war, die umliegenden Wälder und Hügel jedoch unter einer dünnen Schneedecke lagen. Ein weißes Leuchten tauchte den
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