04 - Die Tote im Klosterbrunnen
frühen Morgen in ein unheimliches Licht.
Im Inneren der hölzernen Kapelle war es so kalt, daß man ein Feuer angezündet hatte, das in einer Kohlenpfanne im Hintergrund flackerte. Von dem mit Steinplatten ausgelegten Boden stiegen Feuchtigkeit und Kälte auf. Äbtissin Draigen kniete hinter dem Altar mit seinem großen, ungemein prunkvollen goldenen Kreuz, das fast bis an die Decke der Kapelle reichte. Vor dem Altar, genau vor den Versammelten, stand die fuat , die Totenbahre mit dem Leichnam des unbekannten Mädchens.
Fidelma nahm in der letzten Bank neben Schwester Brónach Platz. Sie war dankbar für die Wärme des ganz in der Nähe brennenden Kohlenfeuers. Anerkennend betrachtete sie die verschwenderische Einrichtung der Kapelle. Passend zur Pracht des Altarkreuzes waren auch die Wände mit zahlreichen Ikonen geschmückt, und ihre Goldverzierungen waren überall zu sehen. Sie nahm an, daß das Leichenbegängnis seit dem Vorabend abgehalten worden war. Jetzt war der Leichnam in ein racholl , ein weißes, linnenes Totenhemd, gehüllt. An jeder Ecke der Bahre flackerte eine Kerze in der leichten Morgenbrise.
Äbtissin Draigen erhob sich und begann nach Art der traditionellen lámb-comairt , der Totenklage, langsam in die Hände zu klatschen. Dann stimmten die Schwestern ein leises Wehklagen an – den caoine , den Klagegesang. Im Dämmerlicht des frühen Morgens klang er bedrückend, und Fidelma bekam Gänsehaut, obwohl sie ihn schon so oft gehört hatte. Das Beweinen der Toten war ein Brauch aus uralten Zeiten, lange bevor das Christentum die Verehrung der alten Gottheiten verdrängt hatte.
Nach zehn Minuten brach der caoine ab.
Äbtissin Draigen trat vor. An dieser Stelle der Zeremonie folgte gewöhnlich das amra oder Klagegedicht.
Da ertönte plötzlich ein seltsames Geräusch unter dem Steinfußboden der Kapelle. Ein leises, sonderbares Kratzen, ein dumpf dröhnendes Poltern, als stießen zwei Holzboote gegeneinander. Die Mitglieder der Gemeinschaft blickten sich furchtsam an.
Äbtissin Draigen hob Ruhe gebietend ihre schlanke Hand.
»Schwestern, Ihr vergeßt Euch«, mahnte sie.
Dann beugte sie den Kopf, um mit der Messe fortzufahren.
»Schwestern, wir haben eine Tote zu beklagen, die wir noch nicht einmal kennen, und können deshalb kein Klagegedicht anläßlich ihres Dahinscheidens sprechen. Eine unbekannte Seele hat sich in Gottes heilige Umarmung verabschiedet. Gott aber kennt sie, und das genügt. Die Hand, die dieses Leben ausgelöscht hat, ist Gott mit Sicherheit ebenfalls bekannt. Wir beklagen das Dahinscheiden dieser Seele, sind jedoch froh über die Gewißheit, daß sie sich nun in Gottes Obhut befindet.«
Auf ein Zeichen der Äbtissin traten sechs Schwestern vor, hoben die Totenbahre auf ihre Schultern und verließen, von Draigen angeführt, die Kapelle, während der Rest der Gemeinschaft ihnen in Zweierreihen folgte.
Fidelma wartete, um sich dem Ende des Zuges anzuschließen. Ihr fiel auf, daß noch eine Nonne, offenbar in der gleichen Absicht, ebenfalls zögerte: Schwester Brónach. Sie blieb an ihrem Platz, um gemeinsam mit einer anderen Außenseiterin dem Trauerzug zu folgen. Zuerst dachte Fidelma, die Frau sei besonders klein gewachsen, doch dann bemerkte sie, daß sie einen Stock umklammerte und sich mit einem sonderbar schaukelnden Gang fortbewegte. Ihre Beine waren mißgestaltet, ihr Oberkörper jedoch wohlgeformt. Mit Bedauern stellte Fidelma fest, daß sie noch jung war, ein breites, eher nichtssagendes Gesicht hatte und wässrige blaue Augen. Sie schaukelte von einer Seite zur anderen, zog sich mit Hilfe ihres Schwarzdornsteckens vorwärts und konnte so mit der Prozession gut Schritt halten. Fidelma empfand Mitleid mit dem Unglück der jungen Schwester und fragte sich, welches Mißgeschick ihre Gehbehinderung verursacht haben mochte.
Inzwischen war es hell geworden, hell genug, damit der Trauerzug sich seinen Weg zwischen den Gebäuden der Abtei und hinaus in den dahinterliegenden Wald bahnen konnte. Eine der Schwestern begann mit leiser Sopranstimme in Latein zu rezitieren, während die anderen Schwestern den Chor anstimmten:
Cantemus in omni die
continentes uarie,
conclamantes Deo dignum
hymnum sanctae Mariae
Fidelma übersetzte sich die Worte flüsternd, während sie weiterschritten: »Laßt uns singen jeden Tag, laßt uns vor Gott vielstimmig jauchzen, laßt uns lobsingen der heiligen Maria.«
Sie hielten auf einer kleinen Lichtung, wo, nach den zahlreichen
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