04 - Die Tote im Klosterbrunnen
sie über den Innenhof begleitete, hatte es geschneit, und Fidelma wußte, daß der Abend noch eisiger werden würde.
Die Äbtissin erhob sich und nahm einen Krug vom Regal. Ein Eisenstab wurde bereits im Feuer erhitzt, und Äbtissin Draigen wickelte ein Stück Leder darum, zog ihn heraus und senkte seine rotglühende Spitze in den Krug. Dann goß sie die warme Flüssigkeit in zwei Keramikbecher und reichte einen davon Fidelma.
»Nun, Schwester«, sagte sie, nachdem beide mehrmals dankbar an der Flüssigkeit genippt hatten, »hier sind die Gegenstände, die Ihr sehen wolltet.«
Sie ergriff ein in Tuch gewickeltes Päckchen, legte es auf den Tisch, setzte sich gegenüber auf ihren Platz und begann in kleinen Schlucken von ihrem Wein zu trinken, während sie Fidelma über den Becherrand beobachtete.
Fidelma stellte ihren Becher ab und wickelte das Tuch auf. Es enthielt ein kleines Kruzifix aus Kupfer an einem Lederbändchen.
Sie starrte lange auf den polierten Gegenstand, bevor sie sich plötzlich an ihren Glühwein erinnerte und eilig daran nippte.
»Nun, Schwester«, fragte die Äbtissin, »was haltet Ihr davon?«
»Von dem Kruzifix nicht viel«, erwiderte Fidelma. »Es ist nichts Besonderes. Armselige Handwerkskunst, ein billiges Stück, wie es sich die Mehrzahl der Schwestern leisten kann. Es könnte von einem hiesigen Handwerker stammen. Falls es dem Mädchen gehörte, dessen Leichnam gefunden wurde, bedeutet das, daß es sich um eine Glaubensschwester handelte.«
»Darin pflichte ich Euch bei. Die meisten Nonnen in unserer Gemeinschaft besitzen ähnlich gearbeitete Kruzifixe aus Kupfer. Das ist hier in der Gegend reichlich vorhanden, und die hiesigen Handwerker stellen jede Menge solcher Kruzifixe her. Doch das Mädchen scheint nicht von hier zu sein. Ein Bauer aus der Umgebung dachte, es könnte sich um seine vermißte Tochter handeln. Er kam, um sich die Leiche anzusehen, doch sie war es nicht. Seine Tochter hatte eine Narbe, die der Leichnam nicht aufwies.«
Fidelma unterbrach ihre Betrachtung des Kruzifixes und hob den Kopf.
»Oh? Wann war der Bauer denn hier?«
»Einen Tag, nachdem wir die Tote gefunden hatten. Sein Name ist Barr.«
»Woher wußte er von der Leiche?«
»In diesem Teil der Welt verbreiten sich Neuigkeiten schnell. Jedenfalls verbrachte Barr reichlich Zeit damit, den Körper zu untersuchen. Er wollte offenbar ganz sichergehen. Der Leichnam könnte aber von einer Nonne aus einem anderen Bezirk stammen.«
In der Tat, dachte Fidelma, der Zustand der Hände der Toten ließ vermuten, daß sie einer religiösen Gemeinschaft angehörte. Wer keine Feldarbeit verrichten mußte, war stolz auf ordentlich gepflegte Hände. Die Fingernägel wurden stets sorgfältig geschnitten und gefeilt. Ungepflegte Nägel zu haben war eine Schande, und zwar für Angehörige beiderlei Geschlechts. Der Ausdruck créchtingnech oder ›abgebrochene Nägel‹ galt als eine der schlimmsten Beleidigungen.
Das paßte jedoch nicht zu den zerschundenen Füßen, den Spuren einer Fußfessel und den Peitschenstriemen auf dem Rücken des Mädchens.
Die Äbtissin hatte ein zweites Stück Tuch ergriffen und es vorsichtig auf den Tisch gelegt.
»Dies ist der Espenstab, der an ihrem linken Unterarm festgebunden war«, kündigte sie an, während sie vorsichtig den Stoff zurückschlug.
Fidelma starrte auf den etwa vierzig Zentimeter langen Stab aus Espenholz. Als erstes fiel ihr auf, daß er in regelmäßigen Abständen eingekerbt war und daß auf einer Seite eine Zeile in Ogham stand, der althergebrachten irischen Schrift. Die Buchstaben waren neueren Datums als die Kerben. Sie betrachtete sie genau, und ihre Lippen formten die Worte.
»Begrabt sie gut. Die Morrigan ist erwacht!«
Sie erbleichte, richtete sich auf und begegnete dem Blick der Äbtissin, die sie spöttisch musterte.
»Ihr wißt, was das ist?« fragte Draigen leise.
Fidelma nickte bedächtig. »Es ist ein fé .«
Ein fé oder Espenstab, gewöhnlich mit einer Inschrift in Ogham, war das Maß, mit dem die Größe von Leichen und Gräbern ermittelt wurde. Der fé war das Werkzeug des Leichenbestatters und wurde mit äußerstem Entsetzen betrachtet, so daß ihn niemand, unter gar keinen Umständen, in die Hand nehmen oder berühren würde, außer demjenigen natürlich, dessen Beruf es war, Leichen und Gräber zu vermessen. Seit den Tagen der alten Götter galt ein fé als Symbol des Todes und des Unheils. Noch heute war die schlimmste Verwünschung, die
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