04 - Herzenspoker
pfiff um die Häuser, und der Boden bedeckte sich allmählich mit
rußgeschwärzten Schneeflocken.
Miß
Esther Jones vom Berkeley Square Nr. 120 schauerte, als sie aus dem Fenster blickte.
Es war viel zu kalt, um mit den Kindern spazierenzugehen.
Sie
bürstete ihr üppiges rotes Haar und wand es auf dem Kopf zu einem strengen
Knoten zusammen, der einem Türknopf nicht unähnlich war. Nur Dummköpfe trugen
bei solchem Wetter Musselin oder Seide - jedenfalls war das die Meinung
der vernünftigen Miß Jones; deshalb zog sie ein warmes Wollkleid in einer
düsteren Schlammfarbe an.
Nebenbei
fragte sie sich, wer der betrunkene Mann gewesen sein mochte, der da so ohne
weiteres in ihr Haus gekommen war, dachte aber nicht lange darüber nach. London
war voll von Trunkenbolden. Man lernte schnell, wie man mit ihnen umgehen musste
- und mit sorglosen Butlern, die draußen herumspazierten und die Haustür
einfach offenstehen ließen.
Als sie
ihre Toilette beendet hatte, sah Miß Jones einer Gouvernante ähnlicher als der
überaus wohlhabenden Lady, die sie in Wirklichkeit war.
Aber
die Umstände hatten viel dazu beigetragen, das sorgenfreie Mädchen, das sie
einst gewesen war, zu verändern. Ihr Vater, der Squire Hugh Jones, hatte in
seinem Haus auf dem Lande ein schändliches Leben geführt und alle möglichen
Skandale in der Nachbarschaft heraufbeschworen, bevor er einen Schlaganfall
erlitt und aus dieser Welt schied. Seine ängstliche und leidende Frau, Miß
Jones' Mutter, hatte ihn nur um ein Jahr überlebt. Der Tod der Eltern machte
Miß Jones zur Alleinerbin. Sie trug nun auch die Verantwortung für ihren
jüngeren Bruder, den neunjährigen Peter, und seine Zwillingsschwester Amy. Die
verstorbene Mrs. Jones war nämlich gleich mit zwei Kindern gesegnet worden, als
sie am wenigsten damit rechnete, überhaupt noch welche haben zu können.
Esther
Jones hatte nach dem Tod der Eltern herausgefunden, dass sie wirklich sehr
reich war. Der Squire hatte erfolgreich an der Börse spekuliert, und das
Vermögen, das er hinterließ, stellte sich als riesig heraus.
Esther
verabscheute jetzt das Land und die Landbevölkerung - sie hielt die Leute
auf dem Land für zuchtlos und unordentlich - genauso wie all diese
ungepflegten Bäume und Blumen. Daher kaufte sie das Stadthaus am Berkeley
Square, packte ihre Sachen und zog in die Hauptstadt. Die Erziehung der
Zwillinge übernahm sie selbst. Aber zunächst arbeitete sie an sich und
beseitigte dabei mit gnadenloser Härte alle Charakterschwächen ihres Vaters,
die sie geerbt haben mochte - außer einer, wenn man sie überhaupt als
Schwäche bezeichnen konnte. Esther hatte weiterspekuliert, wo ihr Vater
aufgehört hatte, und war eine der reichsten Frauen Englands.
Da sie
die Freundschaft mit Mitgliedern der feinen Gesellschaft nicht pflegte und auch
nicht danach strebte, in die Aristokratie aufzusteigen, wußte man kaum etwas
über sie, und sie bekam auch keinen Besuch.
Das
Haus war reich möbliert. Von den Pembroke-Tischen bis hin zu den
säbelbeinigen Stühlen war alles auf Hochglanz poliert. Aber es war auch alles
ziemlich dunkel, ja düster. Helle Farben schmutzten so schnell, und deshalb
waren die Gardinen und Bettvorhänge und Teppiche sämtlich in praktischem
Dunkelrot.
Sie
unterrichtete nicht nur ihren kleinen Bruder und ihre kleine Schwester, sondern
auch die Diener. Sie erwartete von ihnen, dass sie sich jeden Morgen zum Gebet
im Salon versammelten, und außerdem zu bestimmten Zeiten während der Woche, an
denen sie ihnen Unterricht erteilte. Den Männern brächte sie Lesen, Schreiben und
Rechnen bei und den Frauen Nähen, Lesen und die Führung des Haushaltsbuchs.
Sie
zahlte gute Löhne und verstand deshalb nicht recht, warum es gar nicht so
einfach war, die Dienstboten zu halten. Sie wußte nicht, dass sich diese zu
Tode langweilten und viel lieber in einem Haushalt, in dem es freier und
ungezwungener zuging, beschäftigt waren.
Als
junges Mädchen - Esther war jetzt sechsundzwanzig hatte die ständige
Betrunkenheit ihres Vaters sie ungeheuer beschämt. Deshalb arbeitete sie
verbissen daran, dass jeder in ihrer Umgebung nüchtern und anständig blieb.
Sie war
froh über das schlechte Wetter, denn Sonnenschein hätte bedeutet, dass die
Kinder sie bedrängt hätten, mit ihnen in einen Park zu gehen, und Parks
erinnerten Esther an das Land. Außerdem übten in den Parks die Soldaten, und
sie war der Ansicht, dass der kleine Peter mehr als ihm guttat von den
Uniformen und
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