04 - komplett
werden für eine Weile reichen, und in London werde ich mehr für uns beide kaufen. Das soll mein Geschenk für die Freundlichkeit sein, mit der du und deine Familie mich überschüttet habt, seit mein Vater ... starb.“
Der Gedanke an den Selbstmord ihres Vaters schmerzte sie zutiefst. Nach seinem Tod hatten viele Gemeindemitglieder sie geschnitten. Wären nicht Reverend Walker und seine Familie gewesen, hätte sie sich womöglich von ihrer tiefen Verzweiflung überwältigen lassen.
Ein Unglück nach dem anderen hatte sie damals heimgesucht – als erstes die Entdeckung des leblosen Körpers ihres Vaters in seiner Bibliothek. Sein Tod hatte ihr nicht so großes Leid verursacht wie der ihres geliebten Bruders, aber seitdem verabscheute sie Schusswaffen und schrak nachts immer wieder aus Albträumen auf.
Seit Wochen war sie nicht mehr in der Lage zu schlafen, ohne irgendwann mit tränenüberströmtem Gesicht aufzuwachen.
Es hatte Augenblicke gegeben, in denen Cassie sich gewünscht hatte, sterben zu können. Doch inzwischen waren Monate vergangen, und sie hatte sich langsam mit ihrem Verlust abgefunden. Jetzt wollte sie ihr Leben wieder in den Griff bekommen.
Die Neuigkeit von ihrer Erbschaft hatte ihre Zuversicht natürlich noch gestärkt.
Nur den Verlust ihres Bruders, den sie von klein auf vergöttert hatte, würde sie nie ganz verwinden können. Sicher würde sie keinem anderen Menschen je so nahe sein wie ihm. Vielleicht hatte sie auch aus diesem Grund beschlossen, nicht aus Liebe zu heiraten. Liebe war zu schmerzhaft, und Cassie wollte nie wieder so sehr leiden. Sie besaß jetzt Geld, was ihr jetzt also noch fehlte, war ein Mann von Stand, der ihr einen sicheren Platz in der Gesellschaft garantierte. Nie wieder sollte man auf sie herabsehen, weil sie die Tochter eines Selbstmörders war.
„Oh, schau doch nicht so traurig, meine Liebste“, bat Sarah sanft. „Ich ertrage es nicht, dich so unglücklich zu sehen.“
Cassie schüttelte den Kopf. „Ich bin nicht unglücklich, Sarah. Ich musste nur an Jack denken. Er wird mir immer fehlen, ich werde aber versuchen, all das hinter mir zu lassen und ein neues Leben zu beginnen. Du kannst mir dabei helfen, indem du mich nach London begleitest.“ Sie zwinkerte Sarah schelmisch zu. „Tatsächlich werde ich ohne dich gar nicht erst abreisen. Und deinen Vater werde ich schon überreden, seine Zustimmung zu geben.“
„Das wird er bestimmt, weil du ihn bitten wirst“, meinte Sarah aufgeregt. „Aber natürlich nur, wenn wir eine Anstandsdame finden.“
„Lady Fitzpatrick hat versprochen ...“ Cassie wurde von einem Klopfen an der Tür unterbrochen. Das Hausmädchen trat ein. „Ja, Ellie, was ist? Hast du etwas für mich?“
„Sie haben mich gebeten, Ihnen die Briefe zu bringen, Miss.“
„Ist er also endlich angekommen?“ Cassie nahm die Briefe entgegen und öffnete sofort einen, der aus London kam. „Er ist von Mrs. Simmons ...“ Sie überflog die ersten Zeilen. „Sie wird mir als Anstandsdame zur Verfügung stehen ... Oh!“, rief sie dann enttäuscht aus. „Aber erst Ende nächsten Monats.“
„Im nächsten Monat?“ Sarah zuckte die Achseln. „Das ist doch gar nicht so schlecht, oder?“
„Dann ist es schon August, bis wir in London sind. Die Saison wird vorüber sein.
Vielleicht sollten wir dann besser nach Brighton fahren?“
„Brighton ist im Sommer sehr beliebt.“
„Aber es ist nicht London“, wandte Cassie grübelnd ein. „Na ja, wir werden uns wohl damit begnügen müssen.“ Sie öffnete den zweiten Brief, begann ihn zu lesen und schnappte erstaunt nach Luft. „Du liebe Güte!“
„Ist etwas geschehen?“
„Nein. Er ist von Lady Longbourne. Erinnerst du dich an Sir Bertram? Nach seinem Tod zog seine Witwe in Lord Carltons Haus. Das Longbourne-Gut, das selbstverständlich Sir Bertrams Erben gehört, wird schon seit einigen Jahren vermietet.“
„Ich erinnere mich ein wenig an die Familie“, sagte Sarah. „Ich kannte sie nicht besonders gut; Papa besuchte sie einmal, nach Sir Bertrams Tod. Es muss acht Jahre her sein. Ich hatte ihn begleitet, blieb aber zusammen mit Sir Bertrams Sohn im Garten. Er heißt Harry, glaube ich.“
„Stimmt. Lady Longbourne hat zwei Söhne, Harry und seinen Halbbruder Vincent.“
Cassie errötete leicht. „Ich meine, Lord Carlton.“
„Kanntest du sie gut?“
„Ja, ziemlich. Meine Mutter traf sich oft mit Lady Longbourne zum Tee. Einmal erinnere ich mich ...“ Sie lächelte
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