04 - Spuren der Vergangenheit
die von Platanen gesäumte Straße trat, tauchte sie in die Kakofonie der mittäglichen Rush Hour ein. Seit Tagen führte eine Baustellen-Umleitung den Verkehr durch die sonst ruhige Seitenstraße, und ausgerechnet jetzt wälzte sich eine schier endlose Blechlawine am Hotel vorbei, sodass Maria Luisa entschied, auf das Auto zu verzichten und die zwei Straßenblocks bis zur Bibliothek zu Fuß zurückzulegen.
Die Gestalt, die mit verschränkten Armen in der Tür der Bodega stand und ihr grimmig nachblickte, bemerkte sie nicht. Und Álvaro Suárez seinerseits schien zwar kurz zu überlegen, sie zurückzurufen oder ihr nachzulaufen, entschied sich aber letztlich doch dagegen.
Je weiter sich Maria Luisa vom Último Refugio entfernte, desto unbeschwerter bewegte sie sich. Die räumliche Nähe ihres Vaters hatte eine fast lähmende Wirkung auf sie. Sie schüttelte die Gedanken an ihn ab und beschäftigte sich stattdessen mit dem Gast, in dessen Auftrag sie unterwegs war.
Seit seiner Ankunft verschanzte sich Tom Ericson regelrecht auf seinem Zimmer; dabei erweckte er den Eindruck eines Mannes, der möglicherweise gesucht oder verfolgt wurde.
Viel hatte Maria Luisa bislang nicht über Tom Ericson herausgefunden, aber die wenigen Begegnungen und Gespräche hatten sie zu der Überzeugung gebracht, dass sie es mit keinem Ganoven zu tun hatte, wie sie das Viertel sonst bevölkerten.
Der Gedanke an Tom zauberte ein Lächeln in ihr Gesicht, das auch nicht weichen wollte, als sie leichtfüßig die Stufen zum Eingang der Bibliothek hinaufstieg und in die Kühle des altehrwürdigen Gebäudes trat, in dem Ruhe und Rücksichtnahme noch zu den geschätzten Tugenden zählten.
Maria Luisa versicherte sich der Unterstützung eines freundlichen alten Bibliothekars, und schon nach einer halben Stunde hatte sie alle von Tom Ericson notierten Bücher zusammengetragen; dazu noch drei, die nicht auf dem Zettel standen, die ihr der kundige Bibliothekar aber angesichts der anderen Titel wärmstens ans Herz gelegt hatte.
Nachdem sie die Leihgebühr beglichen hatte, trat Maria Luisa den Heimweg an, rechts und links je eine prall gefüllte Stofftasche.
»Hola, Maria!« In Höhe des Kiosks, an dem sie jeden Morgen die neueste Marca -Ausgabe für ihren Vater besorgte, der sich außer fürs Trinken allenfalls noch für Fußball begeisterte, beugte sich Conchita, die steinalte Betreiberin, aus dem offenen Fensterviereck. Sie bleckte die wenigen Zähne, die sie noch hatte, zu einem fröhlichen Lachen. »Um diese Zeit sieht man dich selten. Hat der alte Sklaventreiber dir einen Sonderauftrag gegeben?« Der Blick der alten Frau heftete sich an Maria Luisas ausgebeulte Tragetaschen, auf denen der Name der Bibliothek stand. »Bücher? Jetzt erzähl mir nicht, die wären für Álvaro!«
Im Allgemeinen mochte Maria Luisa das geschäftstüchtige Urgestein des Viertels. Conchita verkaufte nicht nur Zeitungen, sie war selbst eine lebende Nachrichtenquelle, die sich auf lokale Ereignisse spezialisiert hatte.
Um weitere unangenehme Fragen zu vermeiden, wäre Maria Luisa am liebsten weitergegangen, ohne stehenzubleiben. »Ich hab’s eilig, entschuldige. Ein andermal, ja?«
Aber Conchita war unerbittlich und wusste, wie sie jemanden ködern konnte. »Ja, ja, immer diese Eile, als gäbe es kein Morgen!«, rief sie Maria Luisa zu. »Aber diesmal könnte es ja sogar stimmen.«
Maria Luisa blieb stehen und runzelte die Stirn. »Wie meinst du das, Conchita?«
Die Alte winkte sie näher zu sich heran. »Na, den da meine ich natürlich, Kindchen.« Sie tippte mit der Spitze ihres arthritischen Zeigefingers auf die Schlagzeile über einem Bild der El Mundo , das einen im Weltraum dahinrasenden Kometen darstellte. »Die Medien versuchen uns ja einzureden, er würde an der Erde vorbeiziehen – aber ich weiß es besser! Ein paar Monate noch, dann …« Sie riss die Hände auseinander. »Bumm! Und das war’s dann.«
Maria Luisa seufzte. »Woher willst du das denn wissen, Conchita?«
Die Alte zwinkerte ihr zu. »Ich fühl’s in meinen Knochen, glaub mir! Du wirst schon sehen: Noch sagen sie, alles wäre in Ordnung, aber bald …«
Maria Luisa stellte die Taschen ab. »Nein, Conchita. Ich kann mir nicht vorstellen, dass Gott so etwas geschehen ließe. Er hält schützend die Hand über uns.«
»Schon gut, schon gut, ich wollte dir nicht zu nahe treten, Kindchen«, murmelte Conchita. »Ich weiß doch, dass du große Stücke auf den Herrn hältst. Aber wer kennt
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