04 - Spuren der Vergangenheit
Gleichgewicht, spürte, wie ihm der kalte Schweiß ausbrach, und betete darum, dass sich nicht der Zugang zur Xibalbá vor ihm aufgetan hatte.
Ein Zugang? Wie kam er auf den Gedanken?
Eine Eingebung, zweifellos. Fast schien es ihm, als würde ihn der Armreif drängen, erneut vorwärts zu gehen. Obwohl ihm der Sinn doch eigentlich nach Flucht stand.
Drei Schritte tat er, und wieder entstand in dem Opferstein vor ihm eine glitzernde Wasserfläche, der wider die Natur senkrecht vor ihm stand. Und je länger der Priester dem Anblick standhielt, umso mehr verlor der seinen Schrecken. War es nicht vielmehr eine einladende Tür, hinter der eine Belohnung auf ihn wartete?
Narr!, schalt er sich, weil er sich so leicht ködern ließ. Doch das Drängen ließ nicht nach, sodass er bald einen weiteren Schritt vorwärts machte, den Arm mit dem Reif hob und die flache Hand auf die scheinbare Wasseroberfläche legte.
Sie war fühlbar – und durchlässig. Er konnte in den Stein, der hinter dem Flimmern lag, hineingreifen!
Ein weiterer Schritt. Oxlaj drang in das stehende Wasser ein, das dem Körper nur schwachen Widerstand bot. Als würde er ein großes Spinnennetz durchlaufen, das kurz knisterte und riss.
Ein Knistern konnte er tatsächlich hören. Und dann …
… war er auf der anderen Seite.
***
Die Welt, wie Oxlaj sie kannte, verschwand. Er hatte den Eindruck, in eine dämmrige Höhle vorzustoßen, obwohl ihn gerade noch ein Übermaß an Licht geblendet hatte.
Er blieb stehen und blickte hinter sich. Der Zugang war von dieser Seite aus mehr zu erahnen denn zu sehen.
Zwielicht erfüllte den Raum. Wo bei allen Göttern befand er sich? In dem Opferstein? Unmöglich. Dafür war der Raum zu groß. Doch seltsam: Zwar gab es keine Wände, die ihn begrenzten, doch Oxlaj war außerstande, seine Ausmaße zu erkennen. Nur ein paar Schritte entfernt schienen … unsichtbare Mauern aufzuragen, die er nicht sehen, wohl aber fühlen konnte. Als weigerten sich seine Augen, über diese Grenze hinauszublicken. Anders konnte er es nicht beschreiben, und das verwirrte ihn zutiefst.
Das Schlimmste für Oxlaj aber war, dass er sich vom ersten Moment seines Eintritts an beobachtet fühlte – obwohl niemand zu sehen war.
Er spielte mit dem Gedanken, sich sofort wieder zurückzuziehen. Dann aber fiel sein Blick auf einen der Gegenstände, die sich in dem Raum befanden – und die er bis zu diesem Augenblick nicht bemerkt hatte! Doch als er nun genauer hinsah, schälten sie sich aus dem Nichts. Einige waren klar zu erkennen, während andere von einer seltsamen Unschärfe überlagert wurden, als läge ein feiner Schleier darüber.
Der Gegenstand, der seine Blicke anzog, wirkte vertraut und fremdartig zugleich – und befand sich so nah, dass Oxlaj quasi nur die Hand danach ausstrecken musste, um den Dolch mit der flirrenden Klinge an sich zu nehmen.
Er griff zu, bekam ihn zu fassen …
… und nahm rückwärtsgehend den Weg, den er gekommen war.
***
Ein Schrei war das Erste, was Oxlaj überzeugte, den unheimlichen Raum wieder verlassen und in »seine« Welt zurückgefunden zu haben.
Der Schrei kam aus Ts’onots Kehle. Der Jüngling stand am oberen Ende der Stufen und starrte auf ihn, der scheinbar aus dem Opferstein herausgetreten war, und auf das wasserartige Flirren, das nun erlosch, da sich Oxlaj weiter von dem Stein entfernte.
» Nacom , was war das …?«, ächzte Ts’onot.
Oxlaj überlegte, was er antworten sollte. »Ein Zeichen«, sagte er schließlich. »Das Zeichen, dass die Götter nicht verstimmt sind. Im Gegenteil.« Er hob die Hand, um sich zu überzeugen, dass dies alles nicht nur eine Vision gewesen war.
»Was ist das?«, fragte Ts’onot.
»Ein Dolch. Sieht man das nicht?«
Ts’onot schluckte. »Aber die Klinge … sie ist kaum zu sehen! Woher hast du den Dolch?«
»Spielt das eine Rolle?«
»Ja! Mein Vater wird ihn für sich fordern, so wie den Armreif –«
»Dein Vater wird umdenken müssen. Ich zolle ihm nach wie vor Respekt, aber es gibt Dinge, die sich ändern werden. Die Götter haben mich wissen lassen, dass ich unter ihrem Schutz stehe.«
»Oxlaj, bitte …« Ts’onot wirkte ehrlich besorgt.
Der Priester indes wischte seinen Einwand mit einer brüsken Geste weg. »Du wirst verstehen, was ich meine, sobald die Nacht sich rot färbt vom Blut der Sterbenden. Du und jeder andere werden mich fortan mit anderen Augen betrachten …!«
5.
Gegenwart
Als Maria Luisa aus dem Último Refugio auf
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