04 - Spuren der Vergangenheit
sich für auserwählt – auserwählt von denen, die noch über Ah Ahaual thronten. Seine Treue zu ihnen musste er vor allem unter Beweis stellen.
»Dies wird dein letztes Opferritual sein, Priester – du wolltest es nicht anders«, grollte der Herrscher. »Die Fürsprache meines Sohnes nützt dir fortan nichts mehr. Aber ich will dein Leben verschonen, in Anbetracht der Dienste, die du mir geleistet hast. Nach der Zeremonie wirst du Gelegenheit haben, mir den Armreif auszuhändigen – oder du wirst deine Hand verlieren. Doch nun geh und erfülle deine Pflicht! Stimme die Götter gnädig – meine Gnade hast du verwirkt!«
Wie dumm er ist , dachte Oxlaj. Wie blind. Er wird seine Worte bereuen. Ohne ein weiteres Wort kehrte er dem Kaziken den Rücken. Ein letzter Blick über das Podest streifte Ts’onot, der ihn starr vor Entsetzen anschaute. Offenbar hatte er seinem Vater nichts von dem berichtet, was sich tags zuvor hier oben zugetragen hatte.
Gut so , dachte Oxlaj. Gut so.
In ihm stritten Empfindungen miteinander, die ihm neu waren. Geltungssucht hatte er nie gekannt. Aber er musste schon immer anfällig dafür gewesen sein, sonst hätten der Armreif und die Möglichkeiten, die er eröffnete, kein so leichtes Spiel gehabt …
Der Zorn des Herrschers folgte ihm wie ein Schatten auf seinem Weg zum Opferstein.
Die Abfolge von Oxlajs Schritten war weniger zufallsbestimmt als bei früheren Zeremonien. Markierungen am Boden, die anderen bedeutungslos erscheinen mussten, halfen ihm dabei, den Effekt nicht vorzeitig auszulösen.
Dann war er bei seinen Helfern – und dem Delinquenten.
Drogen hätten dem Tutul Xiu die Angst nehmen können vor dem, was ihm bevorstand. Aber die Götter wären verstimmt gewesen, hätten sich zurecht betrogen gefühlt. Es gab auch Drogen, die die Angst eines Menschen verstärkten. Und so wandelte sich der entrückte Blick des Mannes, der am Vortag noch so leidenschaftlich in seinem Käfig getobt hatte, bei Oxlajs Annäherung in einen Ausdruck unsagbaren Entsetzens.
Er wusste, was ihn erwartete. Und Oxlaj wusste, wie er der Opferung eine nie dagewesene Note verleihen konnte, die sein eigenes Ansehen mehren würde.
Während die Gesänge und Tänze der Chac einsetzten und sich schnell zur Ekstase steigerten, brachte er eine Klinge unter seiner Tunika hervor, die außer ihm und Ts’onot noch kein Maya erblickt hatte.
Ts’onot hielt den Atem an. Die Hand auf seiner rechten Schulter, die Hand seines Vaters, krallte sich schmerzhaft in sein Schlüsselbein, als Oxlaj den fremdartigen Dolch aufblitzen ließ.
Ein Raunen ging durch die Menge der Zuschauer. Jeder erkannte gleich, dass es sich nicht um das gebräuchliche Opfermesser handelte, das die Zeremonie vorschrieb. Seine Klinge war kaum mit dem Auge zu fassen. Es war, als wehrte sie sich dagegen, angeschaut zu werden.
Für einen Moment überlegte Ts’onot, ob sein Lehrmeister wahnsinnig geworden war, den Willen der Götter derart zu missachten. Das konnte nur in seinem Tod enden! Es sei denn, Oxlaj verfolgte einen ganz bestimmten, ausgeklügelten Plan. Ts’onot wusste nicht, was er mehr fürchten sollte.
Hinter dem Opferstein vollzog Oxlaj das Ritual seines Lebens, zog alle Register. Niemand wagte ihn zu unterbrechen, selbst Ah Ahaual nicht. Auf dem Höhepunkt der Zeremonie fuhr die unwirkliche Klinge auf den wehrlosen Gefangenen hinab und drang tief – viel tiefer und müheloser als jemals zuvor – in dessen Brustkorb ein.
Der Tutul Xiu bäumte sich auf und richtete den Blick an sich herab. Die Droge und seine überbordende Furcht ließen ihn den Schmerz ertragen.
Den ruckartigen Bewegungen, mit denen Oxlaj die unheimliche Klinge führte, folgte das Hochreißen der Hand, die blitzschnell in den auseinanderklaffenden Rumpf eingetaucht war.
Ts’onot sah nicht zum ersten Mal ein Herz in der Faust des Opferpriesters zucken und Blut gegen den Opferstein spritzen. Neu war dagegen, dass Oxlaj den Ort der Opferung verließ und neben den Steinblock trat.
Ein Raunen ging durch die Menge, und neben Ts’onot erzitterte sein Vater; er wusste nicht, ob vor Wut oder vor Erschrecken.
Denn hinter dem Opferpriester, der das noch pulsierende Herz in die Höhe reckte, begann plötzlich die Luft zu flirren! Ein durchsichtiger Bereich warf Wellen wie Wasser, in das man einen Stein warf.
Oxlaj stieß die Faust mit dem Herzen vorwärts, mitten in das Flirren hinein – und beides verschwand! Mit einem Mal endete sein Arm wie abgeschnitten
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