04 - Spuren der Vergangenheit
Eure Ankunft wartete, Erhabener. Aber ich konnte noch keinen Weg finden, es zu öffnen.«
Ah Ahauals Augen verengten sich misstrauisch. »Du willst es behalten!«
Da ergriff Ts’onot Partei für ihn: »Das würde er nie tun! Oxlaj ist dir treu ergeben, Vater!«
Das Gesicht des Kaziken blieb steinern. »Das hoffe ich. Versuch es weiterhin, Opferpriester. Ich will diesen Reif. Es geziemt sich nicht, dass ein Priester sich nimmt, was ihm gefällt.«
So war es nicht!, wollte Oxlaj sich erneut rechtfertigen. Doch dann verzichtete er darauf und nickte. »Ich tue mein Bestes.«
Auch Ah Ahaual deutete ein kurzes Nicken an. »Es würde mir leidtun, dir die Hand abschneiden zu müssen, um mein Recht einzufordern.«
Oxlaj erblasste unter seiner bronzenen Haut.
»Ein Gott!« Ah Ahaual drehte sich um und machte einen Schritt in Richtung seiner wartenden Krieger. Noch einmal hielt er inne und wandte sich Oxlaj zu. »Was passiert damit?« Er zeigte auf die sich zersetzten Überreste des Wesens.
»Ich … kümmere mich darum.«
»Vergiss nicht, welcher Tag morgen ist.«
»Wie könnte ich das vergessen, Herr?«
Der Blick des Kaziken verriet, wie sehr das Vertrauen in seinen Opferpriester geschwunden war. Oxlaj hatte sich noch nie so bloßgestellt gefühlt. Noch dazu im Beisein seines Schülers.
Als erriete Ah Ahaual seine Gedanken sagte er: »Falls dich die Erziehung meines Sohnes überfordert, musst du es mir sagen. Es darf nicht sein, dass dein wahres Amt darunter leidet. Oder willst du lieber dein Amt abgeben und dich nur noch um Ts’onot kümmern?«
»Vater!« Ts’onots Empörung änderte nichts an der Erschütterung, die Ah Ahauals Worte hinterließen.
Oxlaj unterdrückte ein Würgen. »Ihr hattet nie Grund zur Klage, Herr. Und Ihr werdet auch künftig keinen Grund dafür haben.«
Ah Ahaual drehte sich um und ging wortlos davon.
Oxlajs Finger hatten sich um die Ränder des Armreifs gekrallt, und ohne dass es ihm bewusst wurde, zerrten sie daran, bis Blut unter den Fingernägeln hervortrat.
Den Reif scherte das nicht. Er saß unverrückbar auf seiner Haut.
3.
Gegenwart
»Da bin ich, Jandro.«
Maria Luisa sah auf ihren Bruder hinab, der am Boden vor dem Puzzle saß, das sie am Morgen für ihn aus der Packung genommen und zu einem Haufen aufgeschüttet hatte. 5000 Teile , prangte in einem ovalen Hinweisfeld auf dem Deckel.
Als Maria Luisa eintrat, pflückte Alejandro gerade das letzte verbliebene Puzzlestück vom Dielenboden und pflanzte es in die winzige Lücke. Ohne sein Werk danach weiter anzusehen, blickte er zu der jungen Frau auf, die Schwester und Mutterersatz in einem für ihn war. Stumm und erwartungsvoll.
Es gab Tage, da wünschte sich Maria Luisa nichts mehr, als dass ein Lächeln die ernsten Züge ihres Bruders aufhellen möge. Doch obwohl Alejandro ihr diesen Gefallen in den seltensten Fällen tat, konnte sie sich ein Leben ohne ihn nicht mehr vorstellen.
Auf seine ganz eigene Art brachte er ihr die Zuneigung entgegen, die Maria Luisa unter normalen Umständen von Mutter oder Vater hätte erwarten können. Aber ihre Mutter war schon vor ihrem überraschenden Ableben nicht dazu in der Lage gewesen, und ihr Vater liebte nur den Alkohol.
Maria Luisa war nicht überrascht, dass Alejandro das Riesenpuzzle in wenigen Stunden zusammengesetzt hatte. Sie kannte ihn nicht anders. Aber seine Gabe auf diesem Gebiet schien andere Fähigkeiten zu ersticken. Als Teenager hatte Maria Luisa oft damit gehadert, dass Alejandro nicht war wie andere Jungen seines Alters. Er hatte den Kindergarten schon nach wenigen Tagen wieder verlassen müssen. Später hatte er eine Sonderschule besucht, ohne sie abzuschließen. Dabei konnte er rechnen wie kaum ein Zweiter. Was er aber gar nicht konnte, war, mit anderen zu kommunizieren.
Draußen, in den städtischen Einrichtungen, war der autistische Junge immer einsam gewesen, und auch zuhause hatte ihn die Familie nur als Belastung gesehen. Geändert hatte sich das für Maria Luisa erst mit dem Tod ihrer Mutter. Von einem Tag auf den anderen hatte sie für ihren Bruder in einem Umfang da sein müssen wie noch niemals zuvor.
Ihr Vater hatte angekündigt, ihn in ein Heim abzuschieben. Und Maria Luisa hatte zum ersten Mal echten Widerstand gegen eine seiner Entscheidungen geleistet. In einem hitzigen Streit hatte sie schließlich erreicht, dass er unter einer Bedingung von seinem Vorhaben Abstand nahm: »Aber du kümmerst dich um ihn! Du ganz allein! Und glaub nicht, dass
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