04 - Winnetou IV
doch darauf gefaßt gewesen waren, sich von uns scheiden zu müssen, um uns an die Feinde zu verraten. Als sie außer Hörweite waren, wendete sich der Kiowa an den ‚Jungen Adler‘:
„Kennt mein Bruder diese zwei Männer?“
„Wir kennen sie genau“, nickte dieser.
„Wißt Ihr, daß sie Eure Feinde sind?“
„Ja.“
„Daß sie Euch an Kiktahan Schonka auszuliefern haben?“
„Auch das wissen wir.“
„Und dennoch reitet Ihr mit ihnen? Uff, uff! Das ist ganz genau wie einst Winnetou oder Old Shatterhand! Lieber mitten in der Gefahr, als nur an ihrem Rande!“
Bei diesen Worten glitt ein warmer Seitenblick über mich hin. Dann fuhr er fort:
„Aber warum begleitet Ihr sie nach dem See, der Euch Verderben droht? Etwa nur, um sie zu entlarven und zu bestrafen? Nein! Ihr hattet auch noch andere, wichtigere Gründe. Darf ich sie erraten?“
„Tue es!“
„Ihr wolltet die Zusammenkunft der Kiowas und Komantschen mit den Sioux und Utahs belauschen. Habe ich recht?“
„Mein roter Bruder scheint sehr scharf zu denken!“
Jetzt lächelte der Kiowa und sagte:
„Pida, der Freund Old Shatterhands, denkt noch viel schärfer!“
Da hob der Kiowa seine schönen, ehrlichen Augen zu mir empor und antwortete:
„Nein! Er weiß nichts von dem, was ich tue. Er ist der Häuptling seines Stammes und der Sohn seines Vaters. Als dieses beides hat er Euer Feind zu sein. Aber er liebt Old Shatterhand und er verehrt ihn wie keinen anderen Menschen. Darum wünscht er in seinem Herzen, daß Old Shatterhand, wie er immer siegte, so auch jetzt wieder siegen möge, aber nicht mit den Waffen, sondern in Liebe und Versöhnung. Er will nicht wissen, was ich tue; darum tue ich, was ich will, ohne ihn zu fragen. Ich führe Euch nach dem besten Ort, den es für Euch und Eure Absichten gibt.“
„Nicht nacht dem Wasser des Todes?“
„O doch! Aber auf einem Umweg, damit man Euch nicht sehe. Auf diesem gelangt Ihr nicht nur an das ‚Wasser des Todes‘, sondern auch an das ‚Haus des Todes‘. Fürchtet Ihr Euch vor Geistern?“
„Nur Lebende sind zu fürchten, nicht aber die Toten. Ich hörte noch nie von einem Haus des Todes. Wo liegt es?“
„Am See. Es war unbekannt. Es wurde erst vor zwei Jahren entdeckt. Man fand es voller Gebeine aus uralter, uralter Zeit, mit zahllosen Totems, Wampums und anderen heiligen Dingen. Das alles hat man geordnet, wohl mehrere Wochen lang. Dann wurde das Kalumet des Geheimnisses darüber geraucht, und niemand mehr darf es betreten. Wer es dennoch wagt, sich der Stelle des Ufers zu nähern, die nach dem Haus führt, wird von den Geistern derer, die einst hier starben, getötet.“
„Und dennoch willst Du es wagen?“
„Ja.“
„Welch ein Mut!“
Es war nicht zu ersehen, ob der ‚Junge Adler‘ diesen Ausruf ernst oder ironisch meinte. Der Kiowa sah vor sich nieder, hob dann schnell den Kopf und antwortete lächelnd:
„Allein würde ich es nicht tun; mit Euch aber kann mir nichts geschehen. Das weiß ich so genau, als hätte ich es aus dem Mund unseres großen guten Manitou selbst gehört. Ihr kennt mich nicht. Ihr dürft mir wohl mißtrauen. Aber ich bitte Euch, mir dennoch zu folgen! Ich kann Euch keine andere Sicherheit als höchstens nur die Frage geben: Kennt Ihr vielleicht Kolma Putschi?“
„Ja.“
„Sie ist meine Freundin. Und kennt Ihr vielleicht gar auch Aschta, die Squaw von Wakon, des berühmtesten Mannes der Dakotastämme?“
„Auch diese.“
„Wir wohnen weit voneinander entfernt, aber wir verkehren öfters durch besondere Boten. Ich hoffe, beide in nächster Zeit persönlich zu sehen, trotz der Feindschaft, die zwischen unseren Völkern waltet. Habt Ihr nun Vertrauen zu mir?“
Diese Mühe, uns Zuversicht einzuflößen, war rührend. Wer weiß, was er alles wagte, um uns zu Diensten zu sein! Und er schien gar nicht zu ahnen, daß er dadurch, daß er diese beiden Frauen seine Freundinnen nannte, sich selbst als Weib bezeichnete. Ich antwortete:
„Wir haben Vertrauen. Wir hatten es gleich vom ersten Augenblick an, als wir dich sahen. Führe uns also! Wir werden dir folgen.“
„So kommt!“
Die beiden Enters hatten sich schon eine große Strecke entfernt. Wir folgten zunächst langsam ihrer Spur, damit sie nicht sehen mochten, nach welcher Seite wir ritten, und erst als sie am Horizont verschwunden waren, wichen wir von unserer bisherigen Richtung nach rechts ab, weil wir, um nach dem ‚Haus des Todes‘ zu kommen, nicht in direkter Linie nach dem
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