04 - Winnetou IV
auf dieser Seite eines und auf der anderen Seite eines. Hast du schon einmal von ihnen gehört?“
„Nicht von zweien, sondern nur von einem“, antwortete ich.
„In Wirklichkeit ist auch nur ein einziges da; denn das eine ist richtig, und das andere ist falsch. Aber welches das richtige und welches das falsche ist, das weiß man bis heute noch nicht.“
„Aber früher hat man es gewußt?“
„Ja. Dieses Wissen ist aber wieder verlorengegangen. Ich gab mir alle Mühe, es zurückzufinden, doch leider ohne Erfolg. Es gibt zwei ‚Teufelskanzeln‘, die eine hier, die andere droben in Colorado. Die dortige ist das ‚Ohr Gottes‘; die hiesige ist das ‚Ohr des Teufels‘. Ich werde dir erzählen, was diese Namen bedeuten, doch nicht jetzt, sondern später.“
Wir ritten weiter.
Der Platz auf dem wir uns befanden, war bis jetzt noch von über tausendjährigen, breitwipfeligen Laubbäumen besetzt gewesen, die uns die Aussicht benahmen, doch als wir an ihnen vorüber waren, wurde der Blick in die Ferne frei, und wir hielten unsere Pferde an, denn das, was wir sahen, fesselte uns sofort und derartig, daß es uns innerlich und äußerlich ganz in Anspruch nahm.
„Das ist das Wunder, von dem ich sprach, der Schleierfall“, sagte der Medizinmann, indem er vorwärts deutete.
Wir konnten den hohen, hinteren Teil des breiten Platzes übersehen. Da oben, aber für uns unsichtbar, weil wir uns in der Tiefe befanden lag der bereits erwähnte ‚Geheimnis- oder Medizinensee‘. Von ihm aus warf sich die Höhe so steil zu uns herab, daß ihre Bewegung eine genau senkrechte war, und zwar in ihrer ganzen Breite. Ich habe schon erwähnt, daß dieser See zwei Wasserfälle speiste, welche zu beiden Seiten des Mount Winnetou niederfielen, um den ‚Weißen Fluß‘ zu bilden. Aber in diesen Katarakten entfernte er nicht das ganze Wasser, welches ihm überflüssig war, sondern es gab noch einen dritten Weg, sich von ihm zu befreien, nämlich eben durch den Schleierfall. Während der See nach außen die beiden schmalen Fälle speiste, lief er nach innen in breitester Weise über, von einer bis zur anderen Seite des Platzes, auf dem wir uns unten befanden. Die Linie, auf der er dies tat, war vollständig gerad und vollständig horizontal, so daß das Wasser gleichmäßig verteilt, glatt und eben, wie ein polierter Spiegel, in das Tal herniederstürzte.
Dieser Spiegel war gewiß fünfzig Meter hoch. Seine Glätte wurde an keinem einzigen Punkt getrübt und sein Zusammenhang um keinen Zentimeter unterbrochen. Und da er die ganze Breite des Innentales einnahm, so kann man sich wohl denken, was für einen tiefen, tiefen Eindruck er machte! Es war jetzt kurz nach Mittag. Die Sonne stand hoch. Ihre Strahlen fielen schräg auf den Wasserspiegel und wurden von ihm derart gebrochen und zurückgegeben, daß es schien, als ob er nicht aus Wasser, sondern aus flüssigem Gold, Silber und Kupfer und aus fallenden Strömen von Diamanten, Rubinen, Saphiren, Smaragden, Topasen und anderen Edelsteinen bestehe. Das erschien allerdings wie ein Wunder! Noch wunderbarer aber war, daß dieser Fall unten nicht etwa einen See oder eine andere derartige Wasseransammlung bildete, sondern sofort und restlos in der Erde verschwand.
„Wo sieht man dieses Wasser wieder?“ fragte ich Tatellah-Satah.
„Im ‚Tal der Höhle‘, fünf Reitstunden weit von hier“, antwortete er.
Das war mir sehr interessant, denn dieses Tal der Höhle war ja der Ort, an dem Kiktahan Schonka mit seinen Verbündeten sich verstecken wollte. Tatellah-Satah fuhr fort:
„Um diese Tageszeit ist der Fall wie von Gold und Edelsteinen gewebt, nicht aber ein Schleierfall. Doch schaut ihn Euch später an! Des Abends oder des Nachts, im Dunkel, im Halbdunkel, im Mondschein, im Sternenschein, im vereinigten Mond- und Sternenschein! Da ist es, als ob man sich auf einem anderen Stern, in einer anderen Welt befinde, nicht aber auf dieser Erde, der nichts mehr heilig gilt.“
Er deutete dabei auf ein im Entstehen begriffenes Bauwerk, welches in kurzer Entfernung vor dem Wasserfall aus der Erde und derart zum Himmel strebte, als ob ihm die Aufgabe gestellt sei, dieses Wunder zu entweihen. Es bestand jetzt aus einem ungeheuer schweren, massigen Postament von zehn übereinanderliegenden Riesenstufen, die so breit und so hoch waren, daß ihr Gewicht viele Tausende von Zentnern betrug und jedenfalls darauf berechnet war, ungeheure Lasten zu tragen. Auf diesem Piedestal erhoben sich zwei
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