04 - Winnetou IV
werdet vorher noch anderes sehen, nämlich das berühmte ‚Ohr des Teufels‘, dessen Zweck man nicht mehr kennt, und das Modell zur Winnetoustatue, an welchem Young Surehand und Young Apanatschka arbeiten.“
Ich antwortete nicht; ich blieb still. Ich tat so, als ob mich dieses ‚Ohr des Teufels‘ gar nicht interessiere. Bekanntlich hatten wir den alten Kiktahan Schonka und seinen Verbündeten Tusahga Saritsch in der Bergellipse kennengelernt, welche den Namen Tscha Manitou, ‚Ohr Gottes‘, führt. Wir erfuhren dort, daß es eine zweite, derartige Ellipse gibt, die man Tscha Kehtikeh, das ‚Ohr des Teufels‘, nennt. War damit der Ort gemeint, von dem der Medizinmann jetzt sprach? Das Herzle schaut mich an. Sie war der Meinung, daß es meine Pflicht sei, mich über diesen Gegenstand zu äußern. Ich aber schüttelte leise den Kopf. Als der ‚Junge Adler‘ an der Devils pulpit von dem ‚Ohr Gottes‘ und dem ‚Ohr des Teufels‘ sprach, hatte er gesagt, daß er das Geheimnis dieser beiden Orte von Tatellah-Satah zu erfahren hoffe; ich aber war der Meinung gewesen, daß der Medizinmann selbst noch nicht alles wisse. Darum hielt ich es für richtiger, nicht eher hierüber zu sprechen, als bis ich erfahren hatte, wie weit seine Kenntnis dieses Gegenstandes reiche.
Der Boden, auf dem wir ritten, glich keineswegs einem Wildnispfad, sondern einer alten, jämmerlich ab- und ausgefahrenen deutschen Dorfstraße, auf welcher schwere Lastwagen verkehren. Es gab tief eingeschnittene Wagengeleise und Pferdespuren, die darauf schließen ließen, daß die hier transportierten Lasten nicht ohne Tierquälerei bewegt worden waren. Das Herzle konnte nicht umhin, eine bedauernde Bemerkung hierüber zu machen. Ich antwortete. Tatellah-Satah war still. Aber seine Brauen zogen sich zusammen, und sein Gesicht legte sich in strenge Züge.
Dieser Fahrweg führte bergan, doch so langsam, daß man es kaum bemerkte. Bald zweigte links ein breiter Reitweg ab, der schneller zur Höhe stieg.
„Unser Weg hinauf zum Schloß“, erklärt der Alte. „Wir aber bleiben jetzt noch unten; wir reiten weiter.“
Nach vielleicht einer Viertelstunde mündete das Tal ganz plötzlich auf einen freien Platz, der schmal begann, aber nach und nach immer breiter und breiter wurde. Mit dieser Breite wuchs die Steilheit der Felsen. Diese letzteren zeigten zu beiden Seiten unseres Weges je einen nicht genau kreisförmigen Einschnitt. Beide Einschnitte lagen einander gegenüber. Sie bildeten riesige Felsennischen, zur rechten und linken Seite des Platzes gelegen. Es fiel mir auf, daß die eine so tief und breit und auch genauso abgerundet wie die andere war. Ich gewann den Eindruck, daß zwar die Natur die Bildnerin gewesen war, daß aber die Menschenhand nachgeholfen hatte, und zwar vor mehreren Tausenden von Jahren. Daß diese Menschenarbeit nicht nur einen besonderen Zweck, sondern auch einen tieferen Sinn gehabt hatte, verstand sich ganz von selbst. Ich hatte sogleich meine eigenen Gedanken hierüber, zumal mir ein Umstand in die Augen fiel, der mich sofort an die Devils pulpit erinnerte, wo wir die Beratung der Utahs und der Sioux belauscht hatten. Nämlich im vorderen Teil der beiden Nischen bestand der Boden aus sehr fest zusammengefügten Steinplatten, die keine Vegetation aufkommen ließen. Und über diese Platten erhob sich in beiden Nischen ein kanzelartiger Felsen, der einer kleinen, früheren Insel glich und Stufen hatte. Das gemahnte direkt an jene Beratungskanzel, auf deren Stufen ich die kleinen Hundepfötchen gefunden hatte, welche einen Teil der Medizin des alten Kiktahan Schonka bildeten. Der hintere Teil beider Nischen aber war derart mit Gestrüpp, Gesträuch und Bäumen besetzt, daß man sich hinter diesen Büschen leicht eine zweite Kanzel denken konnte, ähnlich derjenigen, auf welcher der Bär sein Lager aufgeschlagen hatte und von uns erlegt worden war. Wenn man nicht tiefer dachte, konnte man also sehr wohl auf den Gedanken kommen, daß jede dieser Nischen eine Wiederholung des ellipsenförmigen Talkessels bedeute, der uns als die Devils pulpit bekannt geworden war. Ich sage mit Absicht, ‚wenn man nicht tiefer dachte‘, denn ich hatte große Lust, diesen Vergleich nicht für einen tiefsinnigen, sondern für einen oberflächlichen zu halten, fand aber keine Zeit, weiter nachzudenken, weil Tatellah-Satah jetzt das Schweigen unterbrach, indem er, nach rechts und links deutend, sagte:
„Das sind die ‚Ohren des Teufels‘
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