04 - Winnetou IV
erkundigte sich Athabaska. „Dann müßte ja der hier eingetroffen sein, auf den er wartet! Wer ist das? Wer hat ihn gesehen?“
Und da erschienen zwei Reiter oder vielmehr zwei Reiterinnen, die aus der Oberstadt im Galopp herabgeritten kamen, sie überflogen mit ihren Blicken die Unterstadt, sahen den Menschenhaufen, den wir bildeten, und lenkten ihre Pferde auf uns zu. Es waren die beiden Aschtas, Mutter und Tochter.
Bei uns angekommen, sprangen sie von ihren Pferden, eilten, ohne eine andere Person anzusehen, auf uns zu und begrüßten uns mit rührender, mir beinahe unverständlicher Freude. Aber das Verständnis kam mir sofort, als die Mutter ihrem Gruß die Worte hinzufügte:
„Nun sind wir erlöst; nun sind wir erlöst! Und zwar durch Euch, Mr. Burton!“
„Erlöst? Durch mich?“ fragte ich.
„Ja, durch Euch! Denn nun ist das Warten zu Ende, und Tatellah-Satah wird mit Taten beginnen, mit Taten! Der ‚Junge Adler‘ kam hier an und ritt sofort zu ihm hinauf, um euch zu melden. Vom Wachtturm aus wurde ausgeschaut und, als ihr kamt, das Zeichen herabgegeben. Nun verläßt der größte Medizinmann aller roten Völker zum erstenmal seit langer Zeit sein hohes Felsenschloß, um Euch entgegen zu kommen. Wir sind so froh, so froh!“
Sie drückte mir wieder und wieder die Hand und küßte dann das Herzle. Dann bekam auch unser alter, braver Pappermann den ihm gebührenden Teil des herzlichen Willkomms. So sehr Athabaska und Algongka ihre Gesichtszüge in der Gewalt hatten, jetzt konnten sie doch ihr Erstaunen nicht verbergen; aber sie fanden keine Zeit, es in Worten auszudrücken, denn es nahte sich von der Oberstadt her ein Reiterzug, der unsere ganze Aufmerksamkeit in Anspruch nahm.
Voran ritt der ‚Junge Adler‘. Dann folgte in zwei Abteilungen die Leibgarde des Medizinmanns, auf kohlschwarzen Rossen, deren Schabracken aus den Fellen von Silberlöwen bestanden. Die Reiter waren auserlesene junge Leute, alle genauso gekleidet wie einst Winnetou sich zu kleiden pflegte, nicht mit Lanzen und Flinten bewaffnet, sondern nur mit Messer und Revolver im Gürtel und den Lasso in Schlingen von der Schulter zur Hüfte herab. Ein jeder trug das Zeichen des Winnetou auf der Brust. Als sie in unsere Nähe gelangten, lenkte der ‚Junge Adler‘ zu uns herüber, deutete auf unsere Gruppe und hielt dann an. Auch alle anderen hielten. Ihre Reihen lösten sich, und aus ihrer Mitte ritt der Gebieter hervor, langsam auf uns zu, fast bis zu uns heran, parierte da sein Tier und überflog uns mit prüfendem Blick.
Er wurde von einem herrlichen, schneeweißen Maultier getragen, dessen Mähne in langgeflochtenen Zöpfen fast bis zur Erde niederhing. Die Schabracke bestand aus feinem unvergleichlichem altindianischen Federgeflecht, von dem jeder Quadratdezimeter ein ganzes Vermögen kostet. Die Bügel waren von purem Gold, inkaperuanisch ziseliert. Ein Mantel hüllte ihn ein, so daß man den Anzug, den er darunter trug, nicht sah. Dieser Mantel war von blauer Farbe, aber von einem Blau, wie ich noch niemals eines gesehen habe und wahrscheinlich auch keines wieder sehen werde. Der Stoff war außerordentlich fein, wie allerfeinste, indische Seide, aber dennoch keine Seide, sondern von jenem längst verschwundenen sagenhaften Gewebe, von dem man erzählt, daß nur die Frauen der alten, südamerikanischen Herrscher es herzustellen verstanden. Sein Kopf war unbedeckt, und dennoch aber wohlbedeckt, und zwar von einem außerordentlich reichen, starken, silberglänzenden Haar, welches zu beiden Seiten in langen Zöpfen bis auf die Steigbügel niederfiel.
„Marah Durimeh!“ flüsterte das Herzle mir zu.
Sie hatte recht. Genauso trug auch meine alte, herrliche, meinen Lesern wohlbekannte Marah Durimeh ihr Haar. Auch seine Gesichtszüge waren den ihren derart ähnlich, daß es mich beinahe erstaunte. Vor allem die Augen, diese großen, weit offenen, unerforschlichen, selbst aber alles erforschenden Augen, in denen der Ausdruck einer unerbittlichen Strenge und doch auch wieder einer heiligen Güte lag, die alles verstehen und alles verzeihen konnte. Und als er zu sprechen begann, erschrak ich fast. Es überlief mich kalt. Seine Stimme war unbedingt die Marah Durimehs, so voll, so tief, so wirkungsstark, ein klein wenig männlicher gefärbt, aber doch genau dieselbe!
„Wer von euch ist Old Shatterhand?“ fragte er, indem sein Blick uns prüfte.
Bei seinem Erscheinen war jedermann verstummt, so tief wirkte seine geheimnisvolle,
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