04 - Winnetou IV
unwiderstehliche Persönlichkeit. Als er aber diesen Namen nannte, flüsterte es rund um mich her:
„Old Shatterhand? Old Shatterhand? Ist doch nicht hier! Kann unmöglich hier sein! Oder doch, oder doch?“
„Ich bin es“, antwortete ich, indem ich hervortrat und langsam auf ihn zuschritt.
Eine Sekunde lang war es, als ob sein Blick mich umfassen und verbrennen wolle, dann schwang er sich mit jugendlicher Leichtigkeit aus dem Sattel, um mir einige Schritte entgegenzukommen und dann meine Hände zu fassen. So standen wir nun voreinander, ernst, unendlich ernst, und doch mit inniger Freude. Auge in Auge. Fest ineinandergetaucht. Uns beide der Wichtigkeit des gegenwärtigen Augenblickes voll und ganz bewußt. Da begann er wieder zu sprechen:
„Man sagte mir, du seist ein Greis geworden. Du bist keiner! Das Menschenleid kann zur Matrone werden, doch nie die Menschenliebe, die uns vereint, obgleich ich dich seit kurzem erst verstehe. Ich heiße dich willkommen!“
Er küßte mich, drückte mich an sich und küßte mich wieder und wieder. Dann ergriff er meine Hand und wendete sich an die Schar der Anwesenden.
„Ich kenne euch nicht. Ich bin Tatellah-Satah, und hier an meiner Seite steht Old Shatterhand. Aber irrt euch nicht in uns! Wir sind nicht nur das, sondern wir sind mehr. Ich bin die Sehnsucht der roten Völker, welche, nach Osten schauend, auf Erlösung warten. Und er ist der anbrechende Tag, der über Länder und Meere wandert, um uns die Zukunft zu bringen. So soll ein jeder Mensch zugleich auch die Menschheit bedeuten, und was ihr hier an meinem Berg tut, mag es recht oder unrecht sein, das tut ihr nicht für euch und nicht für den heutigen Tag, sondern für Jahrhunderte und Jahrtausende und für die Völker aller Erdenländer!“
Und das Wort nun wieder an mich richtend, fuhr er fort:
„Steig auf dein Pferd und folge mir! Du bist mein Gast! Der liebste, den ich kenne! Was mein ist, sei auch dein!“
„Ich bin nicht allein“, antwortete ich.
„Ich weiß es. Es wurde mir vom Nugget-tsil gemeldet. Bring mir die Squaw, von der meine Späher sagen, sie sei wie Sonnenschein! Bring mir ihr Pferd! Und bring mir auch den alten, treuen Jäger!“
Ich holte das Herzle. Es war ihr, als müsse sie vor ihm niederknien und ihm die Hände küssen. Er aber zog sie an sich und sprach:
„Noch nie berührten meine Lippen ein Weib. Du sollst die erste sein, die erste und die letze, die einzige!“
Er küßte sie auf die Stirn und auf die Wangen. Dann bat er:
„Steig auf! Ich hebe dich!“
Pappermann hatte ihr Pferd gebracht. Der ‚Bewahrer der großen Medizin‘ faltete seine Hände zum Bügel. Das Herzle trat hinein und wurde von ihm in den Sattel geschwungen. Hierauf bekam auch Pappermann einen gütigen Händedruck und den Befehl, sich mit dem Gepäck uns anzuschließen. Bevor Tatellah-Satah selbst wieder aufstieg, hielt ich es für geraten, ihm zunächst unsere Freundinnen, die beiden Aschtas, und dann auch Athabaska und Algongka vorzustellen. Er gewann sich ihre Herzen sofort durch die Art und Weise, in der er das entgegennahm. Dann schwang er sich wieder auf sein Maultier und geleitete uns zu seinen Trabanten, welche mit uns in derselben Ordnung davonritten, in der sie gekommen waren: Voran der ‚Junge Adler‘, dann die Hälfte der Winnetous, hierauf Tatellah-Satah mit dem Herzle und mir, hinter uns Pappermann mit den Gepäckmaultieren und dann die Hälfte der Leibgarde. So ging es aus der Unterstadt hinauf in die Oberstadt und dann dem Innental zu, welches ich als Portal des Mount Winnetou bezeichnet habe. Überall, wo wir vorüberkamen, standen rechts und links die Indianer, um ihrem größten und berühmtesten Forscher und Gelehrten in ihrer stillen und doch so laut sprechenden Art und Weise ihre Hochachtung und Huldigung darzubringen. Es war als ob ein König oder ein Heiliger an ihnen vorüberziehe, nach ihrer Anschauung vielleicht beides zugleich. Das Herzle war sehr bleich, war tief ergriffen, und mir ging es nicht anders.
Als wir die von Zelten besetzte Vorebene des Mount Winnetou hinter uns hatten, öffnete sich die kompakte Masse des Vorderberges zu einem hohen, breiten Felsentor, durch welches wir das in das Innere des Berges führende Tal betraten. Die Wände dieses Tales stiegen hoch an; sie waren bewaldet.
„Bevor wir hinauf zum ‚Schloß‘ reiten, führe ich euch zu meinem Wunder“, sagte Tatellah-Satah. „Ich meine den Schleierfall, den es nur hier, sonst nirgends gibt. Ihr
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