04 - Winnetou IV
wohin wir ihnen jetzt nachfolgten.
Intschu-inta war, wie bereits gesagt, ein wahrer Hüne von Gestalt, gewiß schon über 60 Jahre alt, doch von noch jugendlicher Rüstigkeit. Ein wahrheitsliebender, treuer, stolzer Charakter. Wenn er als unser ‚Diener‘ bezeichnet worden war, so war er das freiwillig. Es hatte nichts mit dem Begriff der Unterordnung, der Gehorsamsleistung zu tun. Er war trotzdem in jeder Beziehung sein eigener, selbständiger Herr. Er führte uns durch die schon erwähnten Tore nach dem Zweiten, dritten, vierten, fünften und sechsten Innenhof. Das dort stehende Gebäude war für uns bestimmt, ganz allein nur für uns.
„Es ist Winnetous Haus“, erklärte uns das ‚Gute Auge‘.
„Wohnte er da?“ fragte ich.
„Stets, so oft er kam“, antwortete der Diener. „Die Räume, in denen Old Shatterhand wohnen wird, sind noch ganz genauso, wie sie von Winnetou verlassen wurden, als er zum letzten Male hier war. Wenn Intschu tschuna kam, wohnte er bei seinem berühmten Sohn. Und ebenso Nscho-tschi. Unsere weiße Schwester wohnt in den Stuben, welche von der schönen, gütigen Schwester Winnetous bewohnt worden sind.“
Auch dieses Gebäude hatte Balkone vor den schmalen Schartenöffnungen der Mauerfronten. Infolge der hohen Lage mußte es da einen noch weiteren Fernblick geben als unten bei Tatellah-Satah. Unsere Pferde und Maultiere waren in einem stall- oder schuppenartigen Nebengebäude untergebracht. Wir aber stiegen die Treppe zu den Wohnräumen empor und gelangten da zunächst in eine große, indianisch ausgestattete Stube, in welcher hohe Tongefäße zum Waschen standen. Es gab da zahlreiche Sitze verschiedener Art und auch eine Platte mit Friedenspfeifen.
„Das ist der Empfangssalon“, lächelte das Herzle.
Die Wände waren mit allerlei Waffen ausgestattet. Ich sah einige Messer, Pistolen und Flinten, die ich kannte. Sie hatten Jagdgenossen von uns gehört. Der Diener führte uns durch das ganze Gebäude. Es hätte bequemen Raum für 30-40 Gäste gehabt, und ich müßte mehrere Druckbogen füllen, um die Einrichtung und Ausstattung auch nur einigermaßen zu beschreiben. Darum unterlasse ich das jetzt, zumal ich später, wenn ich ‚Winnetous Testament‘ veröffentliche, auf dieses Haus und seine Räume zurückzukommen habe.
Mit welchen Gefühlen ich die drei nebeneinanderliegenden Stuben betrat, welche den Zweck gehabt hatten, Winnetou zum eigentlichen Gebrauch zu dienen, kann man sich wohl denken. Links lag die Schlafstube. Hieran stieß die bedeutend größere Wohnstube. Hierauf folgte die ebenso große Arbeitsstube, aus jedem dieser drei Räume konnte man hinaus auf den Balkon treten, um die herrliche Aussicht, die sich da bot, zu genießen. In der Schlafstube gab es ein sehr weiches, sehr hohes und außerordentlich sauberes Lager von Fellen und Decken. Hierzu einige Wassergefäße zum Waschen und Trinken, weiter nichts, die Wohnstube war halb europäisch, halb indianisch eingerichtet. Es gab niedrige und hohe Sitze, niedrige und hohe Tische, auf diesen Tischen lag und an den Wänden hing gar mancher Gegenstand, den ich kannte, weil er von mir stammte. Darunter zwei Fotografien, die ich für gut getroffen gehalten hatte. Jetzt waren sie ziemlich verblichen. An der einen Wand hingen wohl gegen 20 Blätter mit Versuchen, diese Photographien nachzuzeichnen.
„Er muß dich doch sehr, sehr lieb gehabt haben!“ sagte das Herzle, indem sie diese Blätter eingehend betrachtete. „Seine Hand ist nicht talentlos gewesen. Er traf, war aber ungeübt, noch nicht einmal Schüler! Es ist das so außerordentlich rührend!“
In der Arbeitsstube stand – – ein Schreibtisch, ja, wirklich ein Schreibtisch, mit Kästen, Federn, Tinte und vielem Papier. Die Tinte war eingetrocknet. Hier hatte er, der Herrliche, sich im Schreiben geübt. Hier war er, der Bändiger der wildesten Pferde, der Meister im Gebrauche einer jeden Waffe, auf die Jagd nach orthographischen Schnitzern gegangen! Mein lieber, lieber, mein einziger Winnetou! Und hier hatte er die bedeutsamsten Kapitel seines ‚Testaments‘ geschrieben, dessen Veröffentlichung mir übertragen worden ist!
Auch anderes hatte er hier gearbeitet, mit Messer und Zange, mit Hammer und Feile, sogar mit Nadel und Zwirn! Nichts war ihm zu niedrig und zu klein gewesen, sogar eine Ledermappe zu machen, hatte er versucht. Als ich sie öffnete, lag ein einziges Blatt darin. Darauf stand in großen Buchstaben geschrieben: „Charly, mein Charly,
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