04 - Winnetou IV
und grad zu unsern Füßen landete. Ich habe dieses Weibchen, welches viel, viel größer als das Adlermännchen war, dann mit erschlagen helfen. Einen stärkeren, größeren und gewaltigeren Vogel als dieses Weibchen gab es nie im ganzen Leben. Wie alt sie war, das wußte man schon längst nicht mehr. Jedermann kannte sie. Sie litt kein Männchen bei sich; sie biß und jagte es fort. Man schrieb ihr ungeheure Kräfte zu. Man behauptete, sie könnte einen ausgewachsenen Präriewolf zum Horst tragen. Damals zählte der ‚Junge Adler‘ zwölf Jahre. Er wohnte hier bei uns. Er war ein Verwandter Winnetous und der Liebling aller derer, die ihn kanten. Trotz dieser seiner großen Jugend ging er nach Norden, um sich den Ton zu seiner Friedenspfeife aus den heiligen Steinbrüchen von Dakota zu holen. Als er mit dem Ton zurückkam und die Pfeife geschnitten war, erklärte er, daß er sich nun auch seine Medizin erbeuten wolle. Er ging vierzig Tage in die Wüste, um zu fasten, und es träumte ihm, daß er der ‚Junge Adler‘ heißen werde und darum die beiden jungen Kriegsadler aus dem Horst holen solle; ihre Krallen und Schnäbel seien seine Medizin. Er war vom Fasten schwach. Er wog kaum noch die Hälfte von vorher. Dennoch wagte er es, das Gebot des Traumes sofort auszufüllen, ohne sich recht zu erholen, er nahm einen Lasso, steckte ein Messer und viele Riemen zu sich und begann den Aufstieg in die Höhe des Horstes. Droben angekommen, fand er das Nest unzugänglich. Um es zu erreichen, mußte man ein Stück darüber hinausklettern und sich dann am Lasso herablassen. Er tat das. Er befestigte ein Lasso am überhängenden Felsen und griff sich dann daran hinunter. Aber das Lasso war zu kurz. Als er das Ende erreichte, schwebte er noch hoch über dem Nest und die Kräfte verließen ihn. Er öffnete die Hände und sprang in das Nest herab. Der Lasso schwebte hoch über ihm hin und her und war nicht mehr zu erreichen.“
„Wie fürchterlich!“ rief das Herzle aus. „Gab es keinen Weg aus dem Nest?“
„Nein“, lächelte der Erzähler. „Adler pflegen nicht an Wegen zu horsten. Die Adlermutter war abwesend; die beiden Jungen aber lagen da. Sie rissen die Schnäbel auf und kreischten den Eindringling angstvoll an. Er tötete sie, schnitt ihnen die Köpfe und die Krallen ab, steckte diese ein und warf die Körper in die Tiefe. Dann begann er zu überlegen, wie er sich wohl entfernen könne. Aber es war keine Möglichkeit zu ersehen. Hoch über ihm der Lasso, den er nicht erreichen konnte, unter ihm die grausige Tiefe, und er selbst im schwindelnden Felsenhorst, aus dem keine Ratte, keine Maus einen Rettungsweg gefunden hätte, viel weniger ein Mensch! Und indem er das erkannte, sah er die Alte kommen, mit einem kleinen Wild in den Fängen, welches sie für ihre Jungen erbeutet hatte. Sobald sie ihn sah, ließ sie es fallen und schoß mit heiseren Schreien auf ihn zu. Er zog sein Messer, um sich zu verteidigen. Aber in diesem Augenblick war es, als ob eine laute, warnende Stimme ihm zurief: ‚Töte sie nicht und verletze sie nicht, sonst bist du verloren! Sie ist deine einzige Rettung!‘“
„Ah, fliegen!“ sagte das Herzle, tief Atem holend.
„Ja, fliegen“, nickte Intschu-inta. „Das war das einzige; weiter gab es nichts.“
„Der arme Knabe! Wie ermöglichte er das?“
„Nicht der arme Knabe! Sondern der kühne, der kluge, der mutige Knabe! Hier kann es kein Bedauern geben, sondern nur ein Bewundern! Der Horst liegt auf einem kleinen Felsenvorsprung, von dem aus ein schmaler Riß in das Innere des Gesteins führt, um aber bald zu enden. Da lagen die Hölzer und Knüppel der früheren Jahrgänge des Horstes, denn der Kriegsadler baut sein Nest jährlich immer neu und also immer höher. Es gelang dem Knaben, sich in diesen Riß zu retten, noch ehe das kreischende Raubvogelweib den Horst erreichte und den wütenden Angriff begann. Er kroch nach und nach fast ganz unter die Hölzer und verteidigte sich mit ihnen. Dabei dachte er eifrig darüber nach, wie er sich retten könne. Er war so klug, einzusehen, daß dies nur dadurch möglich sei, daß der Adler ihn hinunter in die Tiefe trage. Er fragte sich, ob er trotz seiner jetzigen Leichtigkeit nicht doch zu schwer für diesen Vogel sei. Indem er das dachte, ließ die Alte von ihrem Angriff ab, um nach ihren Jungen zu sehen. Dadurch gewann er Zeit zu ruhigerem Überlegen.“
„Er war zu schwer!“ fiel das Herzle ängstlich ein.
„Allerdings war das
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