04 - Winnetou IV
schwer, denn sie waren so sehr mit sich selbst beschäftigt, daß sie weder Augen noch Ohren für etwas anderes zu haben schienen. Ich kam so nahe an sie heran, daß ich von dem Strauch aus, der mich verbarg, mit meiner Hand den Fuß des auf dem Bauch ausgestreckten Kiowa hätte ergreifen können. Das Thema, welches sie behandelten, war von größter Wichtigkeit, nicht nur für sie, sondern ebensosehr auch für mich.
Das, was ich für Papier gehalten hatte, war nicht Papier, sondern Leder, seidendünn pergamentartig zubereitetes Leder, auf beiden Seiten beschrieben oder wohl auch bemalt. Die eine Seite enthielt eine genaue Zeichnung des Mount Winnetou und den Situationsplan des ‚Schlosses‘, welches der ‚Bewahrer der großen Medizin‘ bewohnte. Auf der anderen Seite befand sich eine ebenso genaue Karte des Inneren der großen Höhle, vor welcher wir uns befanden. Das wußte ich schon nach Verlauf der ersten Minute, in der ich lauschte. Die Unterhaltung war sehr bewegt. Die Karte wurde bald hinum- und bald wieder herumgedreht. Man nannte, suchte und fand die verschiedensten Namen, Stellen und Punkte. Das alles hörte ich und merkte es mir. Ich erfuhr, daß die Karte dem Medizinmann der Komantschen gehörte. Sie war ein ur-, uraltes Erbstück seiner Familie. Niemand außer ihm durfte von ihr wissen, und nur der große, hochwichtige Zweck, der heut und hier zu verfolgen war, hatte ihn veranlaßt, dieses Geheimnis zu lüften. Der Medizinmann der Kiowa war außerordentlich begierig darauf, den Inhalt dieser ledernen Urkunde genau kennenzulernen und sich einzuprägen.
„Also ist es gewiß und wahrhaftig und wirklich so, wie es hier steht?“ fragte er.
„Ja, wirklich!“ nickte der Komantsche.
„Wir liegen jetzt hier, an dieser Stelle?“
Dabei deutete er auf den betreffenden Punkt der Karte.
„Ja“, antwortete der andere.
„Und von hier aus kann man unterirdisch bis auf den Mount Winnetou kommen? Nicht nur gehend, sondern sogar zu Pferd? “
„Gewiß, zu Pferd.“
„Und auf diesem Weg willst du uns und unsere viertausend Krieger nach oben führen, um Tatellah-Satah und seinen ganzen Anhang zu überfallen? Uff, Uff! Das ist ein großer Plan, ein sehr großer Plan! Hat mein roter Bruder diesen Weg schon einmal gemacht? Ist er schon einmal oben gewesen?“
„Nein, aber einer meiner Ahnen hat es heimlich versucht, und es gelang. Der Weg endete an mehreren Stellen; es gelang ihm aber nur, das eine Ende zu erreichen, nach dem auch ich gelangen will.“
„Das ist hinter dem Schleierfall?“
„Ja, das ist der einzige Punkt, den man zu Pferd erreichen kann. Zu den anderen Punkten kann man nur zu Fuß kommen.“
„Aber wenn es nicht gelingt? Wenn über viertausend Menschen in der Höhle stecken, ohne vor- oder rückwärts zu können? Bedenke mein Bruder, was so viele Menschen und so viele Pferde brauchen!“
„Ich habe es bedacht. Ich bin darum vorausgeritten, um die Höhle vorher zu untersuchen. Und ich nahm dazu nur dich, meinen roten Bruder mit, keinen anderen Menschen, weil du ebenso ein Bewahrer der Medizin bist wie ich und Tatellah-Satah. Dir darf ich vertrauen.“
„So laß uns keine Zeit verlieren, sondern beginnen!“
Er stand auf.
Sie hatten sich also nicht gezankt, sondern es hatte infolge ihrer Lebhaftigkeit nur so geschienen. Der Komantsche erhob sich auch vom Boden. Er legte die Karte mit großer, sorgfältiger Langsamkeit zusammen, um sie dann einzustecken. Da richtete auch ich mich auf, trat hinter dem Gezweig hervor und sagte:
„Meine roten Brüder werden wahrscheinlich doch ein wenig Zeit verlieren, ehe sie beginnen!“
„Uff!“ rief der Kiowa erschrocken. „Ein Weißer!“
„Uff, uff! Ein Bleichgesicht!“ rief zu gleicher Zeit auch der Komantsche.
Ich riß ihm das Pergament aus der Hand, steckte es nicht in seine, sondern in meine Tasche, stellte mich so, daß sie nicht zu ihren Gewehren konnten, und fuhr fort:
„Ich nehme diese Karte einstweilen zu mir, weil ich euch helfen werde, den darauf bezeichneten Weg durch die Höhle zu finden!“
Nun hatten sie sich von ihrer Überraschung erholt. Sie richteten sich hoch und kampfbereit auf.
„Wer bist du, daß du es wagst, mich zu bestehlen?“ fragte der Komantsche.
Dabei näherte er sich mir, um zu seinem Gewehr zu gelangen. Ich zog den Revolver, spannte ihn und antwortete:
„Ich stehle nicht! Wenn diese Karte dein rechtmäßiges Eigentum ist, wirst du sie wiederbekommen. Weg von den Gewehren, sonst schieße ich!
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