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04 - Winnetou IV

04 - Winnetou IV

Titel: 04 - Winnetou IV Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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einem anderen. Es folgte Abwechslung auf Abwechslung, Überraschung auf Überraschung. Oft war die Überraschung so groß, daß wir uns lauter Ausrufe der Bewunderung nicht enthalten konnten. Es war ein Reich der herrlichsten Tropfsteinmärchen, welches wir da kennenlernten. Die köstlichen Gedanken, zu Spat, Aragonit und Sinter erstarrt, wuchsen als Stalaktiten von oben herab. Ebenso köstliche Stalagmiten stiegen ihnen von unten aus entgegen, um sich mit ihnen zu Pfeifen, Säulen, Orgeln und anderen Gebilden zu vereinigen, von denen man kaum glauben konnte, daß sie der Erde angehörten. Wir aber hatten leider nicht Zeit zu eingehender Betrachtung, die wir uns für später aufheben mußten. Es drängte uns vorwärts, vorwärts, hinauf nach der Stelle, wo es sich zu entscheiden hatte, ob wir weiter konnten oder nicht. So ritten wir durch Gänge und Tunnels, durch kleine Kammern und riesige Säle, durch Refektorien und Kirchen, durch Vorhöfe und weite Säulenhallen, durch Veranden und Korridore. Wir kamen an Abgründen vorüber, in deren Tiefe der Fluß rauschte. Wir schlüpften zwischen dünnen Wasserfäden hindurch, die wie aus unsichtbaren Gartenschläuchen spritzten. Wir kamen über Stellen, wo es zu regnen schien. Wir sahen Kaskaden springen und Wasserstrahlen aus unsichtbaren Dachtraufen stürzen. Aber wir verweilten uns nicht: weiter ging es, immer weiter, bis endlich der breite Weg zu Ende war. Er wurde mit einem Male so schmal und so unbequem, daß nur noch Fußgänger vorwärts konnten.
    „Du siehst, daß ich recht hatte“, sagte Intschu-inta. „Der Weg für Pferde ist zu Ende. Er führt nicht weiter. Es gibt keine Mündung, die hinter dem Schleierfall einen Ausgang bildet.“
    Er schien recht zu haben. Wir befanden uns in einem breiten Gang, der vor einer Doppelgruppe von Stalaktiten und Stalagmiten haltmachte und sich dann als sehr schmaler Weg von dieser Gruppe nach rechts wendete. Nach der Karte aber machte er diese Wendung nicht, sondern er ging geradeaus, nachdem er den schmalen Pfad von sich abgezweigt hatte. Das war der entscheidende Punkt! Jetzt mußte es sich zeigen, ob ich mich auf meine Augen und auf mein Kombinationsvermögen verlassen konnte oder nicht! Ich begann, die Tropfsteingruppe zu untersuchen, und sah sehr bald, daß es gar keiner großen Klugheit bedurfte, das Richtige zu entdecken.
    Stalaktiten sind nämlich Tropfsteine, die sich von oben, also von der Decke herab, bilden. Unter Stalagmiten aber versteht man die Tropfsteine, die aus dem Boden in die Höhe wachsen. Treffen beide in der Mitte zusammen, so bilden sich nach und nach Säulen und Säulengruppen. Die Stalagmiten entstehen anders als die Stalaktiten. Beide sind sehr leicht voneinander zu unterscheiden, weil sie nicht dieselbe Struktur besitzen. Hier nun sah ich sogleich; daß die von oben herabhängenden Tropfsteine echt waren; die von unten emporragenden aber waren nicht echt; sie waren Stalaktiten, keine Stalagmiten. Sie waren nicht an dieser Stelle entstanden, sondern man hatte sie hergeschafft und hier zusammengestellt. Warum und wozu? Sehr einfach: Um den breiten Pfad abzuschneiden, um ihn zu maskieren, zu verbergen, ganz genauso, wie ich vermutet hatte.
    Ich rüttelte an dem äußersten dieser Steine; er ließ sich bewegen. Ich schaffte ihn zur Seite. Um das zu tun, war ich vom Pferd gestiegen. Die anderen folgten diesem Beispiel und halfen, auch die nächsten Steine zu entfernen. Dadurch wurde schon nach kurzer Zeit der breite Weg wenigstens so weit frei, daß wir uns von seiner Fortsetzung überzeugen konnten. Wir vergrößerten die Bresche, bis ein Mann hindurch konnte. Da forderte ich Pappermann und einen der fackeltragenden Winnetous auf, mir in die Lücke zu folgen. Ich wollte sehen, was dahinter lag. Die anderen sollten warten und inzwischen noch so viele Steine zur Seite schaffen, bis auch die Pferde passieren konnten.
    Wir drei nahmen zu der einen, brennenden Fackel noch eine zweite als Reserve mit und drangen dann weiter vor, natürlich zu Fuß. Es ging jetzt noch steiler empor als vorher. Bald hörten wir es vor uns rauschen, dann brausen, dann donnern, ganz wie in der unmittelbaren Nähe des Niagarafalles. Dieses Brausen und Tosen wurde so stark, daß wir unsere eigenen Worte nicht mehr hörten. Die Wand zu unserer Rechten sank in die Tiefe: die zu unserer Linken blieb. Von oben dämmerte es, als ob der Tag durch eine starke Milchglasscheibe zu uns herniederschaue. Und plötzlich, nach einer Biegung des

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