04 - Winnetou IV
hoch über die Ebene. Er stieg höher und höher, schlug einen Bogen, kehrte wieder zurück und ließ sich langsam, ohne daß es einen Stoß gab, wieder auf das Dach herab. Er steht noch genauso da, wie er angekommen ist!“
„Und das ist wahr? Wirklich wahr?“ fragte ich den ‚Jungen Adler‘.
Er nickte mir lächelnd zu. Dieses Lächeln war kein stolzes, aber ein unendlich glückliches! Tatellah-Satah schaute vom Dach in die Weite hinaus. Fast war es, als ob sein Antlitz leuchten wolle.
„Kommt!“ erklang es erst nach längerer Zeit aus seinem Mund.
Er sagte das zu mir und dem ‚Jungen Adler‘ und ging zur Treppe, um wieder vom Turm hinabzusteigen. Unten angekommen, führte er uns in den Hochwald. Er schritt voran; wir folgten hinterdrein. Keiner sprach ein Wort. Er führte uns nach der anderen Seite des Berges, bis zu einer Stelle, von welcher aus wir hinüber nach dem See und hinunter nach dem Schleierfall schauen konnten. Jenseits des Sees ragte der domartige Hauptberg des Mount Winnetou hoch empor, und hinter diesem waren die gewaltigen Kuppen der benachbarten Giganten zu sehen, unter ihnen einer, der seinen Gipfel so stolz und steil, so scharf und senkrecht erhob, als ob es nie einem menschlichen Wesen gestattet worden sei, seinen Scheitel zu betreten. Auf ihn deutend, sagte der Alte:
„Das ist der ‚Berg der Königsgräber‘. Bevor die Rasse der Indianer sich in winzige Stämme auflöste, wurde sie nicht von kleinen Häuptlingen, sondern von gewaltigen Kaisern und Königen regiert, die alle auf der mächtigen, hoch über den Wolken liegenden Plattform dieses Berges begraben worden sind. Die Gräber sind von Stein gemauert. Sie bilden zusammen eine Totenstadt mit Straßen und Plätzen, auf denen es keine Spur von Leben und Bewegung gibt. Sie enthalten nicht nur die Leichen der verstorbenen Herrscher, sondern in jeder Gruft liegen, in goldenen Kästen unzerstört erhalten, die Bücher über jedes Jahr der Regierung dessen, der hier seine letzte irdische Wohnung fand. Hier sind also nicht nur alle die großen Herrscher der roten Rasse begraben, sondern ihre ganze Geschichte und sämtliche Berichte und Dokumente ihrer langen, vieltausendjährigen Vergangenheit. Aber man kann nicht zu ihnen gelangen. Man kann nicht hinauf. Als der letzte König begraben worden war, vernichtete man die Felsenstraße, die hinauf zu den Königsgräbern führte, so daß es keinem Sterblichen mehr möglich war, hinauf zu ihnen zu gelangen. Es soll zwar einen steilen Nebenpfad geben, der damals nicht mit vernichtet worden ist, aber niemand hat ihn bisher gefunden. In einem meiner ältesten Bücher steht geschrieben, daß der Schlüssel zu diesem Pfad vorhanden sei, aber er liege hoch oben auf dem ‚Berg der Medizinen‘, genau am Fuß der letzen, höchsten Felsennadel, unter einem Stein, der die Gestalt einer halben Kugel habe. Der Junge Adler', auf den die roten Männer schon seit langen, langen Jahren warten, wird, wie auf der Haut des großen Kriegsadlers zu lesen ist, dreimal um den Berg fliegen und bei diesem Stein anhalten, um ihn zu heben und den Schlüssel hervorzunehmen . Ist dies gelungen, so kann der Berg der Königsgräber bestiegen werden, und die Berichte und Dokumente der verschwundenen Urzeiten dürfen ihre Stimmen erheben, um die Geheimnisse unserer Vergangenheit zu enthüllen.“
Er schaute nach jener Felsennadel hinauf, an deren Fuß der Schlüssel liegen sollte. Und er schaute hinüber nach der Bergeskuppe, auf welcher die roten Kaiser und Könige begraben lagen. Dann fuhr er fort:
„Das alles wußte ich. In meiner Brust war die ganze, glühende Sehnsucht unserer Rasse vereint . Da saß ich vor meiner Tür, und vor meinen Füßen landete aus hohen Lüften der verwegene Knabe, der den mächtigsten der Vögel gezwungen hatte, ihn über die Abgründe des Todes zur sicheren Erde herabzutragen . Er wurde von nun an der ‚Junge Adler‘ genannt. War er der Verheißene, der Vorherverkündigte? Ich glaubte es. Ich nahm ihn zu mir. Ich erzog ihn. Er war ein Verwandter meines Winnetou. Ich legte ihm die Sehnsucht, fliegen zu lernen, in das Herz. Als ich hörte, daß drüben in Kalifornien die ersten Flugversuche gemacht worden seien, beschloß ich, ihn zu den Bleichgesichtern zu senden, damit er das Fliegen von ihnen lerne. Er ging und tat, was ich von ihm begehrte. Jetzt ist er zurückgekehrt. Er behauptet, ein Flieger geworden zu sein. Er sagt, daß er einen eigenen Adler erfunden habe, auf dessen Flügel
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