04 - Winnetou IV
waren still. Keiner von Ihnen sagte ein Wort. Da war es, als ob die Erde unter uns wanken wollte. Ich fühlte und hörte ein kurzes, aber scharfes Zittern und Knirschen unter mir. Ich hatte mich zu beeilen, von hier fortzukommen.
„Hört ihr es?“ fragte ich. „Das war die Stimme der Höhle, in der sich eure unglücklichen Krieger befinden! Sie sind verloren!“
Nach diesen Worten stieg ich schnell von der Kanzel hinab und beeilte mich, dorthin zu kommen, wohin ich gehörte. Es herrschte rundum tiefe Stille. Jedermann war darüber, daß der Boden gewankt hatte, erschrocken. Da ertönte die laute Stimme Old Surehands. Er befahl, daß die Illumination beginne. Der Ingenieur gehorchte; er öffnete den Projektionsapparat. Die Winnetoufigur wurde tageshell erleuchtet, und ihr zu beiden Seiten erschienen auf dem Spiegel des Schleierfalles die vielvergrößerten Gesichtszüge Young Surehands und Young Apanatschkas. Hatte Old Surehand etwa Beifall erwartet? Es erfolgte keiner. Jedermann blieb still. Die kopflose Steinfigur machte nicht den geringsten Eindruck, und die Porträts der beiden jungen Künstler hatten so wenig Charakteristisches an sich und so wenig tieferen Sinn, daß sie jedermann vollständig gleichgültig ließen. Jetzt war es, wo ich meine Kanzel erreichte. Ich gab den Anwesenden das Zeichen, ja nicht laut zu sprechen, und fragte leise:
„Habt ihr alles gehört?“
Sie nickten.
„Auch das Beben der Erde?“
„Auch das“, antwortete das Herzle flüsternd und die Hand an den Mund haltend, um die Luftwelle abzuhalten, den Weg der Ellipse zu gehen.
„Die Katastrophe scheint nicht warten zu wollen“, fuhr ich fort. „Ich vermute, sie ist da!“
Wieder grollte es in der Erde. Dann war es, als ob irgendwo etwas zusammenbreche. Da erscholl Old Surehands Stimme zum zweiten Male. Der Ingenieur schloß den Apparat und drehte die Leitungskurbel. Die Bilder verschwanden; dafür aber begannen alle vorhandenen Lichter, große und kleine, zu leuchten, von der kleinsten Laternenbirne bis hinauf zu den Riesenkugeln auf hoch emporstrebenden Masten. Aber auch das machte keinen Eindruck. Das Licht war kalt, und das Steinbild blieb dasselbe. Man hatte es am Tage gesehen und sah es jetzt nicht anders.
Und doch! Ich sah es anders, ich! Ich sah, daß es sich noch mehr zur Seite geneigt hatte, und zwar ganz beträchtlich, so beträchtlich, daß das Herzle erschrocken meine Hand ergriff und mir zuraunte:
„Um Gotteswillen! Sie stürzt, sie stürzt, die Figur!“
Und kaum war das gesagt, so rollte es unter uns; es stob und knallte und puffte. Die Figur neigte sich nach links, wankte nach vorn und bog sich nach rechts; ein Donner rollte unter uns hin – ein Krach, als ob die ganze Welt untergehen wolle – – –
„Flieht, flieht! Rettet euch!“ brüllten die Arbeiter, indem sie von der Figur fortstürzten.
Kaum war das geschehen, so gab es ein unbeschreibliches Getöse, ein Poltern, Prasseln, Knattern, Platzen, Bersten, Schmettern, Brausen und Dröhnen. Der Boden öffnete sich. Ein Abgrund gähnte. Die Figur drehte sich mit ihrer ganzen, gewaltigen Unterlage langsam um sich selbst und verschwand dann mit einem Schlag, als ob uns die Ohren platzen sollten, in der Tiefe. Und nicht nur die Figur, sondern auch alles, was sich in der Nähe befand, die Gerüste, die Stangen, die Balken, die Masten mit den Beleuchtungskörpern, alles, alles wurde mit hinabgerissen . Im nächsten Augenblick herrschte tiefste Dunkelheit. Tausende von Stimmen vereinten sich zu einem einzigen, großen Schrei des Entsetzens. Dann gab es für einige Sekunden eine lautlose Stille, aus welcher sich nur die verzweifelte Stimme des alten Tangua erhob:
„Pida, Pida! Mein Sohn, mein Sohn! Er ist verloren!“
Dann aber wurden alle die tausend Stimmen wieder laut. Sie vereinigten sich zu einem Lärmen, Brüllen und Zetern, welches klang, als ob diese ganze große Menge plötzlich wahnsinnig geworden sei. Niemand wollte auf seinem Sitz bleiben. Alles drängte fort, zum Tal hinaus. Die Katastrophe konnte sich ja wiederholen und weitergreifen. Auch unsere Häuptlinge waren schnell von der Kanzel gestiegen und berieten sich eiligst, was zu tun oder zu lassen sei. Nur drei waren oben geblieben, nämlich Tatellah-Satah, das Herzle und ich. Der erstere bat mich:
„Laß keinen wieder herauf! Nur wir drei wollen hören, was da drüben auf der andern Kanzel gesprochen wird.“
„Nicht wir drei, sondern nur ihr zwei“, antwortete ich. „Ich
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