04 - Winnetou IV
erzählen.
„Genauso wie heut“, sagte er, „lag der See damals vor meinen Augen. Es zog mich zu ihm hinab. Ich wachte sehr zeitig auf und setzte mich auf das Pferd, um fortzureiten, ohne eigentlich ausgeschlafen zu haben. Es war in der Morgenfrühe kühl. Darum ritt ich ziemlich rasch und erreichte grad mit Sonnenaufgang den See. Ich sah im Gras Spuren von Menschen, von Indianern. Ich nahm mich also in acht, versteckte mein Pferd und ging den Spuren vorsichtig nach. Sie führten durch die Büsche an das Wasser. Dort angekommen, sah ich Hütten stehen, oder vielmehr Häuser. Nicht halbwilde Wigwams oder Zelte, sondern wirkliche Häuser, aus Balken, Bohlen, Planken und Schindeln hergestellt, genauso wie die Gebäude, aus denen früher, ehe die Weißen kamen, die Städte und Dörfer der Indianer bestanden. Mehrere Boote lagen am Ufer. Fischernetze waren zum Trocknen aufgehängt. Außerordentliche Sauberkeit überall. Nirgends ein Schmutz, eine Waffe, ein blutiger Rest eines Wildes, ein Zeichen von Jagd und Tod. Tiefes Schweigen ringsumher. Nichts regte sich. Die Türen waren geschlossen. Man schlief noch, und zwar ganz ohne Sorge, denn einen Wächter sah ich nicht. Es schien heute ein Ruhetag zu sein.
Ich schlich mich näher, bog um eine Ecke des Gebüsches und sah – – sah – – das schönste Mädchen, ja bei Gott, das schönste, das allerschönste Mädchen, welches meine alten Augen, so lange ich lebe, jemals erblickten! Ich bitte, es mir zu glauben! Sie saß auf einem hohen Steinblock des Ufers und schaute nach Osten, wo die Sonne soeben erschien. Sie war in weiche, weißgegerbte Tierhaut, mit roten Fransen verziert, gekleidet, und ihr langes, dunkles Haar hing, mit Blumen und Kolibris geschmückt, weit über den Rücken herunter. Als die Kolibris im ersten Strahl der Sonne zu funkeln begannen, erhob sie sich von ihrem Sitz, breitete die Arme aus und sagte im Ton der Andacht und Bewunderung: ‚O Manitou, o Manitou!‘
Weiter sagte sie nichts. Dann faltete sie die Hände. Aber ich sage Euch, daß ich niemals in meinem Leben ein besser gemeintes und aufrichtigeres Gebet gehört habe, als diese einzigen zwei Wörter. So stand sie lange, lange, in die Sonne schauend. Ich blieb nicht stehen. Sie zog mich an wie ein Magnet, dem man nicht widerstreben kann. Ich schritt auf sie zu, aber langsam, zögernd, leise, in beinahe heiliger Scheu. Da sah sie mich. Sie erschrak nicht etwa. Sie bewegte keinen Fuß, keinen Finger, kein einziges Glied. Sie sah mich nur an. Aber mit so großen, offenen, erwartungsvollen Augen! In diesen Augen lag dieselbe Sonne, die dort im Osten aufgegangen war. Vor soviel Seltenheit und Schönheit wurde ich zum Dummkopf, zum Tölpel. Ich vergaß, zu grüßen. Heute kann ich mir wohl denken, wie klug und wie geistreich ich damals ausgesehen habe! Ich wußte und bemerkte nur das eine, nämlich daß sie erwartete, von mir angesprochen zu werden. Das tat ich denn auch. Aber anstatt höflich zu sein und zu grüßen, beging ich die größte Unhöflichkeit, indem ich sie fragte: ‚Wie heißt du?‘ Sie antwortete: ‚Ich heiße Aschta!‘ Das kam mir zunächst wie ein Kosename vor, später aber erfuhr ich, daß Aschta ein wirkliches Indianerwort ist und soviel wie ‚Güte‘ bedeutet. Also, sie hieß ‚die Güte‘, und das war sie auch. Ich habe sie niemals anders als still, fromm, wohltätig, rein und gütig gesehen. Kein Flecken war je an ihrem Gewand, kein unlauteres Wort ist je über ihre Zunge gekommen. Ich kann Euch sehr wohl sagen, daß ich damals sehr oft am Kanubisee gewesen bin und mich monatelang in seiner Nähe herumgetrieben habe. Ich bin stundenlang und tagelang an ihrer Seite gewesen, habe aber nicht ein einziges Mal etwas von ihr gesehen und gehört, wovon ich sagen konnte, das war nicht schön, das war nicht gut von ihr. Darum war ich auch nicht etwa der einzige, dem sie so ausnehmend gefiel. Wer da kam, der wollte nicht wieder fort, allein nur ihretwegen. So auch Tom Muddy und – der Sioux Ogellallah.“
Er machte hier eine Pause. Das benutzte meine Frau, ihn auf eine Unterlassungssünde aufmerksam zu machen:
„Aber Mr. Pappermann, Ihr habt doch noch gar nicht gesagt, wem die Häuser am See gehören und wer ihr Vater war!“
„Habe ich noch nicht? Hm! Ja, ganz richtig. Sie kommt bei mir immer voran, und dabei vergesse ich alles andere. So war es schon damals auch. Ihr Vater war ein Medizinmann der Seneca. Nicht etwa einer jener Quacksalber und Possenreißer, die
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