04 - Winnetou IV
Kolibris funkelten im Sonnenstrahl in allen Farben leuchtender Edelsteine; aber das Mädchen schaute nicht, wie damals, der Sonne entgegen, sondern ihr Angesicht war nach der Stelle gerichtet, an der wir ihr jetzt erschienen. Und dieses Mädchen war schön, sehr schön, sowohl von Angesicht, als auch von Gestalt. Sie bewegte kein Glied. Sie sagte kein Wort. Sie sah uns still und erwartungsvoll aus ihren großen, dunklen Augen entgegen.
Und, sonderbar! Pappermann glitt langsam von seinem Maultier herab, schritt ebenso langsam, ganz wie mechanisch auf sie zu, als ob ihn eine tiefe, heilige Scheu umfange, und fragte:
„Wie heißt du?“
„Ich heiße Aschta“, antwortete sie, genau wie ihm damals geantwortet worden war.
„Und wie alt bist du?“
„Achtzehn Sommer.“
Da strich er sich mit der Hand über das Gesicht und sagte, als ob er träume:
„Also nein! Das konnte ja gar nicht sein! Sie ist eine andere, wenn auch ihr ähnlich, so ganz außerordentlich ähnlich!“
„Sprichst du von meiner Mutter?“ fragte nun sie. „Man sagt, daß ich ihr überaus ähnlich sehe.“
„Wie heißt sie?“
„Aschta, wie ich.“
„Und dein Vater?“
„Heißt Wakon. Wir wohnen weit im Norden von hier, am Niobrarafluß.“
Da schlug er die Hände zusammen und rief:
„Sie ist eine Tochter von ihr – eine Tochter!“
Da bog sie ihren Oberkörper weiter vor, als ob sie vom Stein herunterspringen wolle, und sagte:
„Du kennst meinen Vater und meine Mutter? Und die Hälfte deines Gesichtes ist vom Pulver verbrannt! Heißest du vielleicht Pappermann?“
„Ja, so heiße ich.“
„Du warst zu derselben Zeit hier am Kanubisee, als Vater und Mutter einander kennenlernten?“
„Ja, zu derselben Zeit.“
Da stieg sie vom Stein herab und bat:
„Reiche mir deine Hände!“
Er tat es. Sie ergriff sie, küßte sie ihm einmal, zweimal, zog dann seinen Kopf zu sich heran, küßte ihn einmal, zweimal auch auf die dunkle Wange und sprach:
„Du bist der Retter meines Vaters! Hast dich für ihn geopfert! Warum kamst du nie zu uns? Vater und Mutter haben niemals aufgehört, sich nach dir zu erkundigen, doch ohne zu erfahren, wo du bist!“
Der alte Westmann zitterte vor Aufregung und Rührung. Er weinte.
„Woher weiß dein Vater, daß jener Schuß nicht mir, sondern ihm gegolten hat?“ fragte er. „Ich habe es nie verraten!“
„O doch! Aber ohne daß du es wolltest. Du hast es im Fieber erzählt. Vater hat jenen Menschen zweimal wiedergesehen, doch ohne ihn fassen zu können. Sein richtiger Name war nicht Tom Muddy, sondern Santer. Als gestern abend Euer Feuer wie ein ganz, ganz kleiner, flackernder Stern vom Berge leuchtete, sagte Mutter zu mir: ‚So leuchtete damals das Lagerfeuer unseres weißen Retters von genau da oben herab, am Abend, bevor ich ihn zum ersten Mal sah.‘“
„Deine Mutter ist hier?“ erkundigte er sich schnell.
„Sie war hier, ist es aber nicht mehr“, antwortete sie. „Es waren viele Frauen und Töchter hier, die aber mit dem Morgengrauen fortgeritten sind. Ich blieb allein zurück – – – als Wache, als Kundschafterin.“
„Als Kundschafterin?“ fragte er lächelnd. „Wenn wir nun Feinde wären?“
„So hättet ihr mich nicht zu sehen bekommen.“
„So hast du wissen wollen, wer wir sind?“
„Weil wir Euer Feuer gesehen hatten, ja.“
„Und woraus erkanntest du, daß wir nicht gefährlich seien?“
„Weil eine Squaw sich bei euch befand.“
„Ah! Ganz richtig, ganz richtig! Nun mußt du wohl schnell von hier fort?“
„Ja, um die anderen einzuholen. Doch werde ich diesen Ort nicht mehr verlassen, ohne von dir erfahren zu haben, wann und wo wir dich sehen und treffen können.“
„Wohin reitet ihr?“
„Das darf ich nicht sagen.“
Da stieg der ‚Junge Adler‘ vom Pferd, trat hinzu und sagte:
„Du darfst! – Schau her! Ich bin dein Bruder.“
Er trug den neuen Lederanzug, den Pappermann ihm aufgehoben hatte; den alten hatte er weggeworfen. In diesem neuen Anzug nahm er sich sehr stattlich aus. Er deutete auf die rechte Seite der Brust, wo ein kleiner, zwölfstrahliger Stern aus Perlen eingestickt war. Ich sah an ihrem Gewand an der gleichen Stelle ganz den gleichen Stern.
„Du bist ein Winnetou?“ fragte sie, ihn jetzt genauer betrachtend.
„Ja.“
„Und ich bin eine Winnetah. Wir tragen also beide den Stern des großen Winnetou und sind also Bruder und Schwester. Ich bin ein Sioux Ogellallah. Und du?“
„Ein Apatsche vom Stamm der
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