04 - Winnetou IV
etwas wußte.
Wie in der Entwicklung der Menschheit im allgemeinen, so machen sich auch in der Entwicklung jeder einzelnen Rasse zwei einander grad entgegengesetzte Bestrebungen bemerkbar, nämlich der Zug der Zerklüftung und der Zug nach Vereinigung, oder sagen wir, der Zug nach Einheit und der Zug nach Vielheit. Die Zerklüftung beginnt ihren Weg bei dem, was man als Menschengeschlecht bezeichnet, geht über die Rasse, die Nation, das Volk, die Stadt, das Dorf immer weiter herab und hört erst beim abgelegenen Einödhof auf, dessen Besitzer sich nur bei gewissen Gelegenheiten darauf besinnt, daß er auch mit zur Menschheit gehört. Das ist der Weg des Patriotismus, der Vaterlands- und Heimatliebe, aber auch der Weg der nationalen Selbstüberhebung, der politischen Rücksichtslosigkeit. Der andere Weg ist dem direkt entgegengesetzt. Er führt zur Vereinigung aller einzelnen durch einen einzigen, großen Gedanken zu einem einzigen, großen Volk. Welcher von diesen beiden Wegen der Weg zum wirklichen, zum wahren Glück ist, das hat die Menschheit noch bis heute nicht erkennen wollen, also muß sie es durch bittere Erfahrung kennenlernen.
Wie schmerzlich, ja, wie grausam diese Erfahrung ist, das zeigt sich bei keiner Rasse so deutlich wie bei der amerikanischen. Sie ist es, welche die Zerklüftung, die Zerspaltung am allerweitesten getrieben hat. Nirgends, selbst im fernsten, dunkelsten Orient nicht, ist die einst mächtige, imponierende Einheit in so kleine, winzige, ohnmächtige Brocken und Bröckchen zerrieben und zerkleinert worden wie bei den Indianern. Jeder dieser Brocken, jeder dieser vielen Stämme und jedes dieser unzähligen Stämmchen ist stolz auf sich selbst und stets bereit, aus lauter Selbstschätzung vollends zugrunde zu gehen. Diese Zersetzung hätte schon längst zur völligen Vernichtung geführt, wenn die großen Medizinmänner der Vergangenheit nicht bemüht gewesen wären, ihr entgegenzuarbeiten, und zwar in doppelter Weise, nämlich zunächst in theologischer und sodann in sozialer.
Der theologische Weg der Vereinigung lag in dem Gedanken, ‚Großer Geist‘ oder ‚Großer, guter Manitou‘. Die Forschung hat gezeigt und wird noch weiter zeigen, daß der echtblütige Indianer gläubiger Monotheist war und sich dabei glücklich fühlte, bis die zersetzende Vielgötterei sich von außen her tief in sein Inneres bohrte und den großen Niagarafall des Rassensturzes und der Rassen- und Sprachzerstäubung vorbereitete. Und der soziale Weg der Vereinigung wurde in dem Gedanken der Clans gegeben, durch welche die äußerlich zerspaltenen Stämme innerlich wieder verbunden und zusammengehalten werden sollten. Freilich darf man das Wort Clan hier nicht im englischen resp. schottischen Sinn nehmen. Es wurde ein Clan der Wahrhaftigkeit, der Treue, der Wohltätigkeit, der Beredsamkeit, der Ehrlichkeit gegründet. Wer sich in der Beredsamkeit üben wollte; wer sich vornahm, das ganze Leben hindurch wohltätig zu sein; wer sich stark genug fühlte, niemals eine Lüge zu sagen, niemals untreu oder unehrlich zu sein, der konnte dem betreffenden Clan beitreten und sich durch Wort und Handschlag verpflichten, das betreffende Gebot zu erfüllen und lebenslang zu halten. Wer es auch nur einmal übertrat, der wurde ausgestoßen und galt als ehrlos für immer. Der leichteren Unterscheidung wegen und um ein sichtbares Erkennungszeichen zu ermöglichen, nahm jeder Clan den Namen irgendeines Tieres an, dessen Bild als Merkmal diente. So habe ich bereits gesagt, daß der große Redner der Seneca, dessen Grab wir in Buffalo besuchten, zum Clan der Wölfe gehörte. Es gab einen Clan der Adler, der Geier, der Hirsche, der Bären, der Schildkröten und so weiter.
In einen solchen Clan konnte ein jeder eintreten, wes Stammes er immer war. Selbst der Todfeind wurde angenommen und aus allen Kräften beschützt und unterstützt, wenn er die ihm auferlegte Bedingung treu und ehrlich erfüllte. So sehr zum Beispiel die Kiowas und die Navajos einander haßten und sich gegenseitig bis auf Blut und Tod verfolgten, sobald sie sich als Mitglieder eines Clans erkannten, war diese Feindschaft augenblicklich und für stets vergraben. Man kann sich denken, wie segensreich diese Clans wirkten! Leider, leider aber hörte das auf, als die ‚Bleichgesichter‘ erschienen und ihnen gestattet wurde, auch beizutreten. Sie nützten die Clans nur für ihre persönlichen Zwecke aus und steckten die Vorteile ein, die ihnen daraus erwuchsen,
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