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04 - Winnetou IV

04 - Winnetou IV

Titel: 04 - Winnetou IV Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl May
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Tatsache, daß man innerhalb einer gewissen geometrischen Figur an einem Punkt ganz deutlich das hört, was an einem anderen, entfernten Punkt leise gesprochen wird. Dieser Gedanke kam ohne mein Zutun, also ohne daß ich grübelte. Ich wies ihn ab. Aber er kehrte zurück, als der ‚Junge Adler‘ zu sprechen begann, und wollte seitdem nicht wieder weichen. Der Indianer deutete nämlich von da oben, wo wir standen, hinab in die Tiefe und sagte:
    „Das ist die Kanzel. Wir stehen auf dem höchsten Teil der Wand, von der sie umschlossen wird. Es gibt zwei Kanzeln. Die eine, nämlich diese hier, ist den Bleichgesichtern bekannt; von der anderen aber wissen sie nichts. Die eine wird von ihnen die Kanzel des Teufels genannt; die andere würden sie wohl als die Kanzel des guten Manitou bezeichnen. Die roten Männer aber nennen diese hier ‚Tscha Manitou‘ (Ohr Gottes) und die andere ‚Tscha Kehtikeh‘ (Ohr des Teufels).“
    „Welchen Punkt bezeichnet Ihr als Kanzel?“ fragte ich ihn. „Die längliche Runde dieses Felsenkessels erstreckt sich von Ost nach West. Es gibt eine Erhöhung, im östlichen und eine im westlichen Teil. Welche von beiden ist die Kanzel?“
    „Die im westlichen Teil“, antwortete er.
    „So ist also die andere das Ohr?“
    Er sah mich an und wußte nicht, was ich meinte. Da erklärte ich ihm:
    „Von der Kanzel herab pflegt man doch zu sprechen. Und was der Redner spricht, soll gehört werden. Ihr aber erwähntet hier ein Ohr, welches hört. Ihr nanntet es ‚Das Ohr Gottes‘. Wo liegt es?“
    „Das weiß ich nicht. Jedenfalls ist derselbe Punkt gemeint, den die Weißen als Kanzel bezeichnen. Was ich hierüber weiß, das habe ich von Tatellah-Satah, meinem Lehrer, erfahren. An der einen Kanzel, nämlich an dieser hier, hört Gott, was der Teufel spricht und verurteilt das Verdammnis. Und an der anderen Kanzel, welche den Weißen noch unbekannt ist, hört der Teufel, was Gott spricht, und wird dadurch von der Verdammnis erlöst.“
    „Das ist ein tiefer, ein sehr tiefer Sinn, der jedenfalls hier irgendwo und irgendwie in ein äußeres Gewand gekleidet ist, nach dem ich suchen werde. Ihr seht doch, daß der östliche Teil des Kessels ein förmliches Pflanzendickicht bildet, während der westliche, größere Teil viel weniger bewachsen ist. Man scheint dort sogar zuweilen Holz niedergehauen zu haben, um Feuer zu machen.“
    „Das tut man stets, wenn man zur Beratung hier versammelt ist.“
    „Zur Beratung? Doch auch zur Jagd oder zu einem sonstigen Zweck?“
    „Nein. Dieser Ort ist jedem roten Mann heilig. Er ist nur für große wichtige Beratungen bestimmt, die zwischen verschiedenen Nationen abgehalten werden. Nie wird man hier über unwichtige Dinge beraten! Und nie wird ein roter Mann diesen Ort betreten, ohne daß es eine große Zusammenkunft zweier oder mehrerer Nationen gilt!“
    „Ah! – Wirklich?“
    „Ja“, versicherte er. „Ich weiß das ganz genau! Und selbst bei großen Beratungen, wo viele, viele Krieger sich hier versammeln, wird es keiner von ihnen wagen, den östlichen Teil dieses Platzes zu betreten.“
    „Warum?“
    „Man sagt, da wohne der böse Geist, der Teufel, nach dem man die Kanzel benennt.“
    „Höchst interessant, höchst sonderbar und höchst unklar! Was man sich von diesen beiden Kanzeln erzählt, ist jedenfalls viele hundert Jahre alt. Da läßt sich wohl denken, wie sehr man die Wahrheit verwischte. Glaubt Ihr daran?“
    „Ich glaube an den Kern dieser Wahrheit.“
    „Kennt Ihr ihn, diesen Kern?“
    „Nein. Ich hoffe aber, ihn von Tatellah-Satah zu erfahren.“
    „Es fragt sich, ob er selbst ihn kennt. Wenn er ihm bekannt wäre, hätte er, als er hier von dieser Kanzel sprach, sich anders ausgedrückt! Er hätte nicht Kanzel und Ohr als denselben Punkt bezeichnet. Glaubt auch Ihr, daß dort im östlichen Teil des Platzes sich der böse Geist aufhält, der Teufel?“
    „Ich achte den Brauch meiner Väter, ohne zu fragen ob er sich auf Wahrheit gründet oder nicht.“
    „So werdet Ihr es also vermeiden, den heiligen Ort da unten zu betreten?“
    „Wird Mr. Burton hinuntergehen?“
    „Ja, ich gehe.“
    „Mrs. Burton vielleicht auch?“
    „Ja, ganz bestimmt auch sie.“
    „So gehe ich sehr gern mit, wenn beide es wünschen. Ich war vier Jahre lang bei den Bleichgesichtern und habe bei ihnen gelernt, die Seele eines Dinges vom Ding selbst zu unterscheiden. Die Seele ist mir heilig; ihr sichtbares Kleid aber verehre ich nicht. Doch ich achte

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