040 - Die Tochter der Hexe
ohne Angst. Es war gut, so spürte sie nichts, und ich hatte Zeit, mir etwas einfallen zu lassen. Aber gleich darauf wandte sie den Kopf und sah mich an, ohne sich weiter um das Insekt zu kümmern, das geschäftig über sie krabbelte.
„Geh“, sagte sie drängend. „Du mußt in das Haus der Tamil. Ich weiß nicht, wie lange ich es aushalte. Du mußt den Zauber abbrechen.“
Ich war erstaunt über ihren plötzlichen Wandel, aber ich fühlte, daß die Dinge anfingen, sich zu überstürzen. Elvira Tamils Haus war der einzige Ort, von dem aus man diesen Wahnsinn beenden konnte. Ich hoffte sehr, daß ich dazu die Kraft hatte.
„Rasch“, drängte sie.
Ich ließ sie sorgsam los. Sie blieb ruhig liegen, aber ihre Fäuste ballten sich. Es war teuflisch zuzusehen, wie dieser Alptraum über sie kletterte. Ich riß mich los.
Als ich aus dem Haus stürzte, vermeinte ich Leute zu sehen, neugierige, hämische Gesichter, die rasch in die Dunkelheit zurückwichen. Einen Augenblick zögerte ich und überlegte, ob ich es wagen sollte, mit einem dieser Menschen als Geisel den kurzen Weg übers Moor zu erzwingen. Aber einige dieser Kreaturen wären sicher schneller gewesen als ich mit meiner Geisel, und die alte Tamil hätte Zeit gehabt, einen Empfang vorzubereiten.
Ich sprang in den Wagen. Während ich wendete, erkannte ich, daß der Rücksitz leer war. Wilma mußte ausgestiegen sein. Ich warf einen raschen Blick zurück auf das Haus, sah aber niemand. Zum Teufel, nun war ich ganz allein auf mich gestellt.
Einerlei, ich konnte nicht warten!
Ich raste mit aufheulendem Motor den schmalen Weg zur Straße hinab. Ein – oder zweimal glaubte ich Gestalten zu sehen, die mir aus dem Weg sprangen, aber ich war mir dessen nicht sicher, und es ließ mich kalt. Ich hätte sie ohne Zögern niedergefahren. Vor meinen tauben Sinnen sah ich nur Gisela und dieses Ungeheuer.
Ich erreichte die Straße und kam mit neunzig in der engen Kurve ins Schleudern. Aber ich fing mich, ohne vom Pedal zu steigen, und dann flog die nächtliche Landschaft an mir vorbei, und der Fahrtwind aus dem Seitenfenster ernüchterte mich. Ich begann mich darauf zu konzentrieren, was ich tat. Ich durfte nichts riskieren. Ich mußte es schaffen.
Als die Straße nach links abbog, und der erste Hügel sich vor den Ort schob, blendete ich ab und fuhr langsamer. Ein Karrenweg zweigte nach links ab. Ich folgte ihm eine Weile, bis einige Bäume und ein Heustadel auftauchten. Dort parkte ich den Wagen und machte mich auf den Weg.
Es war ein mühseliges Vorwärtskommen. Selbst die Hügel, die Wiesen waren sumpfig von herabfließendem Wasser; einige Bäche mußte ich durchwaten; dann kam ein Stück Wald, da wurde es einfacher. Ich hatte nie gedacht, daß es so schwierig sein könnte, nachts durch eine unbekannte Gegend zu stolpern. Ich sah überhaupt nichts. Eine Taschenlampe hatte ich zwar bei mir, aber ich wagte nicht, sie anzuknipsen. Meine einzige Orientierung war Giselas Haus, das ich weit unter mir sah, und das zudem noch das einzig beleuchtete war.
Ich brauchte über zwei Stunden, bis ich einen dunklen Bau erreichte, aus dessen Fenstern durch die Vorhänge ein schwacher Lichtschimmer drang. Allen Berechnungen nach, die ich entsprechend Giselas Angaben während des Weges unzählige Male angestellt hatte, mußt dies das gesuchte Haus sein.
Welch ein Gebäude war es! Selbst in der Finsternis konnte man erkennen, daß es sich mehr um ein kleines Schloß handelte, und der Teufel mochte wissen, wieso es in diesem sumpfigen Boden nicht längst versunken war.
Ich brauchte eine weitere halbe Stunde, bis ich die lange Außenmauer umrundet hatte und eine günstige Stelle fand, die ein Erklimmen möglich machte. Ich war schon nahe am Verzweifeln.
Niemand schien mich zu hören, während ich nicht gerade geräuschlos hochkletterte und ins Innere sprang. Ich landete auf unebenen, groben Pflastersteinen. Ich befand mich in einem Hof. Ein kleineres Gebäude ragte vor mir schwarz auf. Es mochte Vorratsschuppen und Waschküche und dergleichen enthalten. Ich hielt auf das Hauptgebäude zu und fand bald ein verschlossenes Tor. Die Versuchung, einfach dagegen zu trommeln und diesem entnervenden Herumstolpern in der Dunkelheit ein Ende zu machen, war stark. Nur die Verbissenheit, die sich während des ganzen Weges meiner bemächtigt hatte, hielt mich davon ab.
Immerhin gönnte ich mir einige Minuten Verschnaufpause. Ich versuchte nicht an Gisela zu denken. Es machte mich verrückt.
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