0407 - Am Tisch des Henkers
ab. »Nein, man hat mir da einen Azubi aufgehalst. Mit dem komme ich nicht zurecht.«
»Dann lieber den Sarg, wie?«
»Sie werden staunen. Ich sage ja.«
Dieser Knabe war wirklich zum Lachen. Jeder Mensch ist eben anders und hat seinen Tick. Ich auch.
Während unseres Gesprächs waren wir den gleichen Weg zurückgegangen. Ich hing meinen Gedanken nach und achtete nicht so sehr auf die Umgebung.
Im Gegensatz zu Mr. Madison.
Den hörte ich plötzlich schreien. Gleichzeitig stieß er mich an.
»Verdammt! Da, der Sarg!«
Ich blickte hin.
Zwar schrie ich nicht, trotzdem war ich wie vom Donner gerührt.
Der Sarg stand zwar dort noch, nur waren zwei entscheidende Veränderungen an ihm vorgenommen worden.
Erstens lag der Deckel neben ihm, aber das war nicht tragisch.
Viel schlimmer empfand ich den zweiten Teil.
Wir sahen keine Spur mehr von der Leiche!
***
Ich stand mit wenigen Sätzen neben dem Sarg, starrte in ihn hinein, sah das Kissen, auf dem die Leiche gelegen hatte, und konnte den Schauer nicht zurückdrängen, der über meinen Rücken kroch.
»Die hat jemand gestohlen!«, rief der Zollbeamte. »Verdammt, die ist gestohlen worden!«
Da konnte er Recht haben, doch ich wollte nicht so recht an seine Theorie glauben. Ich hatte eine andere. Wahrscheinlich hatte sich die Tote selbst aus dem Sarg befreit, und wahrscheinlich war sie auch nicht tot gewesen, sondern untot.
Ein Zombie also.
Und dieses Geschöpf konnte durchaus in der Halle umherirren und seine Gräueltaten vollbringen. Ein Zombie reichte aus, um zahlreiche Menschen in Angst und Schrecken zu versetzen. Dieser Gedanke kam mir automatisch, doch ich behielt ihn für mich. Mr. Madison wollte ich mit derartigen Überlegungen nicht belasten.
Sollte die Leiche tatsächlich aus eigener Kraft den Sarg verlassen haben, dann hatte sie das nicht ohne Grund getan. Es musste irgendetwas dahinter stecken. Lebende Tote, Zombies also, taten nie etwas aus eigenem Antrieb. Sie wurden zumeist von einer Person geleitet, nur fragte ich mich, wer dafür in Frage kam.
Meinem indischen Freund Mandra Korab war ich im Nachhinein für seinen Anruf noch dankbarer, denn so hatte ich das Verschwinden der Leiche ziemlich schnell bemerkt. Wer weiß, wann es mir sonst aufgefallen wäre. Ich rechnete nach, wie lange wir den Sarg außer Acht gelassen hatten. Höchstens fünfzehn Minuten. In dieser kurzen Zeitspanne kam man nicht weit.
Madison musste mir helfen. Er kannte sich hier aus. Als ich mich ihm zuwandte, sah ich sein bedenkliches Gesicht. Es kam mir so vor, als hätte er keine Lust, mit mir zusammenzuarbeiten.
»Hören Sie, Mr. Madison, wenn wir davon ausgehen, dass die Tote verschwunden ist und keine Helfer gehabt hat, wo könnte sie stecken?«
Ich hätte andere Worte wählen sollen, denn meine hatten ihn doch erschreckt. Fast feindselig schaute er mich an und bog dabei seinen Oberkörper zurück. »Meinen Sie wirklich, dass die Leiche den Sarg aus eigener Kraft verlassen hat?«
»Vielleicht.«
»Aber das ist nicht möglich.«
»Im Regelfall nicht, aber es gibt Ausnahmen. Rechnen wir einmal damit. Entdeckt worden scheint sie von den hier arbeitenden Leuten noch nicht zu sein. Wo könnte sie sich versteckt halten?«
»Überall.«
»Das glaube ich eben nicht.«
»Wieso? Ich…«
»Mann, die klettert bestimmt nicht in ein Regal. Die sucht den direkten Weg nach draußen. Die will hier weg.«
»Das kann sie ja auch.«
Ich verzog die Mundwinkel. »Toll, wirklich.«
»Aber sie wird nicht weit kommen.« Madison machte mir wieder Mut. »Dieses Gelände kann niemand verlassen, ohne kontrolliert zu werden. Und am Tage schon gar nicht.«
»Alle Achtung, Mr. Madison, daran habe ich nicht gedacht. Sie wird also auffallen.«
»Immer.«
»Können Sie Alarm geben? Ich meine, eine Durchsage und eine Warnung müssten möglich sein.«
»Das stimmt.«
»Dann tun Sie das.«
»Und Sie, Mr. Sinclair?«
»Ich werde die lebende Leiche suchen.«
Der Beamte musste den Eindruck haben, als wären in meinem Kopf einige Schrauben locker. Ich entschuldigte das. Es war auch ziemlich schlimm, wenn man plötzlich mit solchen Dingen konfrontiert wurde.
»Alles klar?«
»Ja, Sir. Wollen Sie mit?«
»Nein, ich sehe mich hier um.«
Er ging wieder. Zuerst langsamer, bald schneller, und schließlich rannte er.
Ich aber machte mich auf die Suche nach der verschwundenen Leiche.
***
Über vierzig Jahre hatte sie den Tod erlebt!
Eine verflucht lange Zeit, ein Horror ohnegleichen, eine
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