0427 - Die Knochen-Küste
»Sie waren so, als hättest du mir etwas gesagt. Ich… ich konnte, mich einfach nicht dagegen wehren.«
»Das verstehe ich schon.«
»Echt?«
»Sicher.«
Matthias' Augen wurden groß. »Aber du hast bestimmt keine Erklärung dafür.«
James Brookfield seufzte und erhob sich. Er ging die drei Schritte bis zum Fenster, blieb stehen, rammte seine Hände in die Hosentaschen und wippte auf den Fußspitzen. »Vielleicht doch, mein Sohn.«
Matthias wurde von der Antwort überrascht. Er sprang plötzlich aus dem Bett und lief zu seinem Vater. »Dad, das ist doch…«
James legte die Hand auf die Schulter seines Sohnes. »Die Erklärung hört sich zwar unwahrscheinlich an, aber sie könnte auch der Wahrheit entsprechen. Es ist möglich, daß ich schon einmal davon gesprochen habe, aber es gibt hier eine alte Legende.«
»Die von den Meerhexen.«
»Sehr richtig. Gut, Matthias.« Brookfield lächelte. »Diese Legende besagt, daß hier vor sehr langer Zeit, als die Küste noch anders aussah, drei Hexen gelebt haben, die einsame Wanderer überfielen. Es waren keine normalen Hexen, die menschlich aussahen, sondern Wesen aus Tang und Algen. Sie konnten im Meer existieren, und sie kamen auch aus dem Wasser, um sich die Menschen zu holen. Sie zogen sie dann in die Tiefe, verschlangen sie und spieen das aus, was sie nicht mehr gebrauchen konnten.«
»Knochen. Dad.«
»Richtig. Es waren die Knochen oder Gebeine. Weißt du nun Bescheid, mein Junge?«
Matthias nickte. »Du meinst also, daß die Knochen, die ich gefunden habe, zu den Leuten gehören, die die Hexen ins Wasser gezogen haben und nicht mehr haben wollten.«
»So könnte es gewesen sein.«
»Im Märchen, Dad!« rief der Junge. »Nur im Märchen oder in der Legende.«
»Aber manchmal werden Märchen und Legenden auch wahr.«
Matthias schwieg. Sein Vater hatte mit einer sehr ernsten Stimme gesprochen. Er kannte ihn genau.
Der Junge wußte, daß sein Dad kein Sprücheklopfer war. Er beschäftigte sich mit gewissen Forschungen und mußte sich deshalb auch mit dem Umfeld auskennen. Sehr oft saß er mit den Einheimischen zusammen und hörte sich deren Geschichten an. Da hatte er auch die Sage von den Meerhexen erfahren.
»Und was war mit den Stimmen, die ich gehört habe?«
»Das könnten die Hexen gewesen sein. Sie sind sehr böse. Wenn Wanderer kamen, haben sie die Kontrolle über ihre Opfer bekommen. Sie lockten sie ins Wasser oder zwischen die Felsen. Vielleicht waren es die Stimmen der Hexen, die du gehörst hast.«
Matthias schüttelte sich und bekam eine Gänsehaut. »Was soll ich jetzt tun?« fragte er.
»Gar nichts. Du bleibst in oder am Haus. Gehst nicht mehr zum Strand. Dort ist es zu gefährlich.«
»Aber die Frau, die ich fast getötet hätte…«
»Das überlasse mal mir. Wie du gesagt hast, ist sie fremd. Und Fremde sind zu dieser Zeit rar in Seaford. Ich werde sie suchen, finden und auch mit ihr sprechen.«
»Wenn sie nun tot ist…«
»Das glaube ich nicht. Ich kann ja zum Strand gehen und dort nachschauen. Klar?«
»Ja, Dad, danke.« Der Junge hob seine Arme und drückte den Vater fest an sich. So fühlte er sich geborgen.
Er sah nicht den sorgenvollen Ausdruck auf Brookfields Gesicht. Der Mann war fest davon überzeugt, daß sein Sohn kein Märchen erzählt hatte, und er dachte an die schrecklichen Geschichten, die man sich über die Meerhexen erzählte.
Jeder Ort in England hatte praktisch seine eigene Legende oder sein Spukhaus. Hier war es nicht anders. Nicht alle Sagen und Legenden entsprachen auch den Tatsachen, doch manchmal gab es Dinge, die mußte man hinnehmen und sich vor allen Dingen näher mit ihnen auseinandersetzen.
Nach einer Weile drückte James seinen Sohn zurück. »Ich werde jetzt zum Strand gehen.«
»Aber paß auf, Dad.«
»Klar. Du hast mich ja jetzt gewarnt.«
»Und wenn die Hexen kommen?« Matthias schaute seinen Vater aus ängstlichen Augen an.
»Damit brauche ich nicht zu rechnen. Der Legende nach zeigen sie sich nur in der Nacht. Du hast sie auch nicht gesehen, nur ihre Stimmen gehört. Ich weiß ungefähr, wo die Mulde liegt. Dort gehe ich hin und schaue mich ein wenig um.«
Es waren seine letzten Worte, bevor er das Zimmer verließ. In der Diele wartete Ursula schon voller Spannung. »Und? Was ist deine Meinung, James?«
Brookfield holte aus seiner schmalen Tasche eine krumme Pfeife hervor. Sie war schon gestopft. Er zündete den Tabak an, paffte die ersten Wolken und sagte mit einer sehr ruhig
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