043 - Der Mann von Marokko
nicht etwa im Verdacht? Er war gestern abend ja gar nicht in Creith!«
»Wenn er Farringdon erschossen hat, muß er wohl in Creith gewesen sein, und wenn er es nicht getan hat, kümmere ich mich auch nicht darum, wo er war.«
Die Reaktion nach dieser Nacht voll Schrecken und Angst war so groß, daß sie den alten Mann hätte umarmen und vor Freude küssen mögen.
»Sind Sie denn ganz sicher?«
»Sie meinen über Morlake?« Er wußte, warum sie so ängstlich war. »Ich glaube, daß es da nicht den geringsten Zweifel gibt. Er hat so große Füße, daß er niemals die Schuhe hätte tragen können, deren Spuren wir vor dem Haus gefunden haben. Trotzdem ist es unter keinen Umständen gewiß, daß der Eigentümer der spitzen Schuhe auch der Mörder ist.«
Als sie ins Haus traten, beaufsichtigte Lord Creith eben die Diener, die das Gepäck in Ordnung brachten, die einzelnen Koffer numerierten und die Zettel aufklebten.
»Hallo, Welling, wen haben Sie heute morgen verhaftet?«
»Am Sonnabend verhafte ich niemand - das verdirbt den Leuten das Wochenende. Sie sind von Hamon antelefoniert worden?«
»Ja«, sagte der Lord erstaunt. »Ungefähr um Mitternacht.«
»Hat er Sie gebeten, ihm etwas nachzuschicken, das er vergessen hatte?«
»Nein, er wollte nur wissen, wann ich heute abreise.«
»Sehen Sie einmal an«, nickte Welling. »Es war ganz selbstverständlich, daß er das tat, obendrein noch um zwölf Uhr nachts?«
»Es war etwas vor zwölf, denke ich. Sicherlich haben Sie das Gespräch belauscht«, sagte Lord Creith vorwurfsvoll.
Als er nach dem Verbleib eines Sportgewehrs forschte, das merkwürdigerweise im letzten Augenblick verschwunden war, wandte sich Joan wieder an Welling.
»Woher wissen Sie das alles, Captain?«
»Ich vermute es nur. Es ist doch natürlich, daß der Mann mit den spitzen Schuhen, wenn es unser Freund Hamon war, so bald als möglich einen Beweis geben wollte, daß er in der Stadt sei. Die Versuche, sich durch ein Telefongespräch ein Alibi zu verschaffen, sind sehr häufig.«
Sie war vollständig von einem Gedanken beherrscht.
»Warum mag wohl Mr. Morlake fortgegangen sein?«
»Vielleicht hatte er wieder einen kleinen Einbruch vor«
»Seien Sie doch nicht so schrecklich«, rief sie erregt. »Sie wissen genau, daß Mr. Morlake kein Einbrecher ist!«
»Wenn ich überhaupt etwas genau weiß«, entgegnete er, »so ist es, daß Morlake tatsächlich ein Einbrecher ist. Ich kümmere mich nicht darum, welche edlen Motive ihn dazu machen - aber er ist ein Einbrecher. Sogar der tüchtigste und schlaueste aller Geldschrankknacker im Land.«
»Hat er viel Geld geraubt?«
»Viele Tausende, aber es war stets Hamons Eigentum. Das ist das Merkwürdige.«
Joan hoffte, daß ein Wunder geschehen und Jim noch im letzten Augenblick erscheinen werde. Aber in dieser Erwartung wurde sie bitter enttäuscht. Sie mußte nach Southampton abfahren, ohne ihn noch einmal gesehen zu haben.
Mit Erstaunen und Verwunderung betrachtete sie auf der Reede die Jacht. Sie hatte sich ein winziges Fahrzeug vorgestellt, aber die ›Esperance‹ hatte das Aussehen eines kleinen Kreuzers.
»Die muß Freund Hamon aber eine schöne Stange Geld gekostet haben - sieht ja beinahe wie ein Passagierdampfer aus«, meinte Lord Creith.
Der englische Kapitän begrüßte sie oben am Fallreep. Alle Vorbereitungen zur Abfahrt waren schon getroffen.
»Mr. Hamon wird nicht kommen, wie ich erfahren habe«, sagte Captain Green. »Wenn Sie gestatten, Mylord, lichten wir die Anker.«
44
Die Strahlen der Frühsonne lagen über Tanger. Joan Carston schaute verwundert von Bord des Schiffs auf das schöne Bild, als sie langsam in die Bai einfuhren. Über ihr wölbte sich ein fleckenloser, tiefblauer Himmel, und der Wind trug einen feinen, fremdartigen Duft von der Küste herüber.
»Freust du dich, daß wir an Land gehen?« fragte ihr Vater. Sie nickte.
»Du bist doch ein prächtiges Mädchen!« sagte er bewundernd. »Du hattest in den letzten Wochen mehr Schicksalsschläge zu ertragen als ein Durchschnittsmensch im Lauf seines ganzen Lebens.«
»Man kann sich auch gegen Schicksalsschläge abhärten.«
»Du bist jetzt nicht mehr in so großer Sorge um Morlake?«
»Nein. Ich habe sogar das Gefühl, daß wir ihn bald wiedersehen.«
Lord Creith war in guter Stimmung.
»Der Kapitän sagte, er habe es so eingerichtet, daß wir eine Woche hier bleiben können, und ich glaube, daß wir unsere Zeit gut ausnützen werden.«
Er mietete Zimmer
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