043 - Die Mordkrallen
tief.
»Ich kann mir gut vorstellen, was in Ihnen vorgeht«, sagte Sullivan leise. »Ihr Herz gehört schon lange nicht mehr Lilian. Es schlägt nur für Coco. Und die hat Sie verlassen.«
Dorian antwortete nicht. Er stieg aus, warf die Zigarette zu Boden und starrte zum Haus hinüber. Seine Rückkehr nach London hatte er sich anders vorgestellt. Er ging an Cohen vorbei, der sich ihm anschloss. Auf dem Weg zur Haustür überlegte sich Dorian, wie er sich Lilian gegenüber verhalten sollte. Bei seinen Besuchen in der O'Hara-Stiftung hatte sie ihn nie erkannt; sie hatte sogar Angst vor ihm gehabt, während sie Coco ins Herz geschlossen hatte. Irgendwann gab er die Besuche auf, da ihn der Anblick seiner wahnsinnigen Frau zu sehr aufwühlte. Zu deutlich waren ihm die Ereignisse auf dem Schloss der Gräfin Anastasia bewusst geworden.
Und jetzt war Lilian gesund. Gesund geworden zum ungünstigsten Augenblick, den man sich nur vorstellen konnte.
Vor der Haustür blieb er stehen, und seine Kiefer arbeiteten. Zögernd drückte er die Klinke nieder. Die Tür schwang auf, und er trat in die Diele. Der muffige Geruch, der bei seinem letzten Besuch in der Luft gehangen hatte, war weg. Auf der Kleiderablage hing eine Melone. Seine Schritte wurden immer langsamer, je näher er dem Wohnzimmer kam. Am liebsten wäre er umgekehrt.
Er blieb stehen und drehte sich nach Cohen und Sullivan um. »Ist Lilian allein?«
»Nein«, sagte Cohen heiser. »Dr. Lannon ist bei ihr.«
»Lasst mich allein mit ihr!«
Cohen kam rasch näher. »Behandle sie sanft, Hunter. Sie ist eine zarte Frau.«
Dorian schluckte die zynische Bemerkung hinunter, die ihm auf der Zunge lag, öffnete die Wohnzimmertür und trat ein. Das Zimmer war neu tapeziert worden, und die Einrichtung war ebenfalls erneuert. Bei seinem Eintritt standen Lilian und Dr. Lannon auf. Der Doktor ging an Dorian vorbei und schloss leise die Tür hinter sich.
Der Dämonenkiller musterte seine Frau. Sie wirkte noch immer so zerbrechlich wie eine Puppe. Der blasse Teint und das goldfarbene Haar unterstrichen diesen Eindruck. Ihre blassblauen Augen waren weit aufgerissen.
Dorian hatte sich in seinem Leben in einigen schwierigen Situationen befunden, und er war nicht auf den Mund gefallen; doch jetzt kam er sich wie ein kleiner dummer Bub vor, der nicht wusste, was er sagen sollte.
»Wir haben uns lange nicht gesehen«, meinte er schließlich und wusste genau, wie lahm das klang.
Lilians Lippen bebten. Er ging langsam auf sie zu. Sie kam ihm wie eine Fremde vor, eine Frau, mit der ihn nichts mehr verband.
Er blieb vor ihr stehen, neigte den Kopf herab, scheute sich aber, einen Kuss auf ihre blass geschminkten Lippen zu drücken. Stattdessen berührte er flüchtig ihre Stirn, trat einen Schritt zurück und quälte sich ein Lächeln ab.
»Du siehst gut aus«, sagte er und versuchte, seine Stimme fröhlich klingen zu lassen.
»Rian«, sagte sie sanft, »es wird alles so wie früher?«
Er nickte schwach. »Ja«, sagte er gepresst und wandte den Blick ab. »Hast du das Zimmer eingerichtet?«
»Ja. Gefällt es dir?«
»Sehr hübsch«, sagte er, obwohl er noch nie viel für Seidentapeten und plump wirkende Möbel übrig gehabt hatte.
»Ich kann es noch immer nicht glauben, dass ich gesund bin. Dr. Lannon und Marvin Cohen haben sich um mich gekümmert.«
»Setzen wir uns«, sagte Dorian. Er wartete, bis Lilian Platz genommen hatte, dann setzte er sich ihr gegenüber.
Sie war eine hübsche Frau, die einfache Bluse und der Wickelrock brachten ihre Figur gut zur Geltung, doch Dorian fragte sich, was ihn je dazu bewogen hatte, sie zu heiraten. Sie passte so gar nicht zu ihm, mit ihrer Ängstlichkeit und ihrem hysterischen Gehabe. Ich muss verrückt gewesen sein , dachte er. Oder haben mich die Erlebnisse der vergangenen Monate geformt? Vielleicht das Zusammensein mit Coco, die so ganz anders ist als Lilian?
Es klopfte leise an der Tür.
»Herein!«, sagte Dorian, der für jede Unterbrechung dankbar war.
Dr. Lannon trat ins Zimmer. Er war ein breitschultriger Mann, Ende der Vierzig, mit einem aufgedunsenen breitflächigen Gesicht. Lannon sah nicht wie ein Psychiater aus, mit seinen plumpen Fingern und der gedrungenen Gestalt, den abstehenden Ohren und dem borstigen rötlichen Schnurrbart.
»Ich möchte gern mit Ihnen sprechen, Mr. Hunter. In der Zwischenzeit werden Sullivan und Cohen so freundlich sein und sich um Ihre Frau kümmern.«
Dorian stand auf und lächelte Lilian zu. Dann
Weitere Kostenlose Bücher