0430 - Vampir-Geschwister
ein neuer begann und die Glocken der Dorfkirchen zwölfmal schlugen, dann war ihre Zeit gekommen.
Mitternacht!
Vampirstunde!
In dieser Nacht war es schlimm. Da erreichte die Gier nach Blut ihren Höhepunkt.
Beide wurden in ihren Särgen unruhig. Manchmal klangen dumpfe Laute durch die Finsternis des Waldes. Immer dann, wenn sie mit den Armen und den Schultern von innen her gegen das Sargholz stießen. Sie wollten raus, sie mußten sich auf die Jagd begeben, um sich endlich den Saft zu holen, der ihnen Kraft und Stärke verlieh.
Ihre Wut steigerte sich. Die Schläge wurden lauter, fordernder, als hätten sie sich gegenseitig abgesprochen. Sie hallten durch den finsteren Wald, erschreckten die Tiere, die aus dem tiefen Schlaf gerissen wurden und panikartig irgendwo im Unterholz verschwanden.
Die Tierwelt hatte es schon lange gewußt, daß zwischen den dicht stehenden Bäumen und dem verfilzten Unterholz das Grauen wohnte.
Dann war es soweit.
Zur selben Zeit hatten sie all ihre Kräfte eingesetzt und gegen die Deckel der Totenkisten getreten. Die Wucht der Stöße knackte nicht nur die Verschlüsse. Die beiden Deckel wurden zerstört, so daß die einzelnen Holzteile wie lange, schmale Geschosse in die Umgebung hineinstachen.
Der Weg war frei!
Für einen Moment noch blieben sie aufrecht in ihren zerstörten Särgen stehen, sie genossen es, vom leichten Nachtwind gestreichelt zu werden und von der Finsternis umgeben zu sein.
Vor ihnen lagen die Trümmer. Manche Holzteile hatten sich im Astgewirr verfangen, andere lagen auf dem Boden.
Der Earl of Luna sprach seine Schwester an. »Wie geht es dir?«
Die Antwort klang dumpf und leise fauchend, während sich das Gesicht der Vampirin verzog. »Ich brauche Blut…«
»Das wirst du bekommen.«
»Blut von Menschen.«
»Ich verspreche es.«
Sie standen noch immer in den Särgen. Zwei Gestalten, von denen eigentlich nur die weibliche wegen ihrer helleren Kleidung richtig zu erkennen war.
Der Mann verschmolz mit der Finsternis. Über seiner dunklen Gestalt wirkte das fahle Gesicht wie ein hellbrauner Lappen, in dem sich etwas Glasiges bewegte.
Die beiden Augen.
Auch Margots Gesicht war bleich. Es hatte eine Leichenfarbe angenommen und unterschied sich kaum von ihren fahlen, verfilzten Haaren, in denen Dreck klebte und sich Ungeziefer eingenistet hatte.
Schlimmere Horror-Gestalten als diese beiden hätte auch ein Filmemacher nicht erfinden können.
Noch gingen sie nicht.
Es schien, als wollten sie die Luft schmecken, ob sie auch rein war.
Es stimmte. Kein Mensch hielt sich in diesem Waldstück in der Nacht auf. Die Menschen lebten woanders. In den Dörfern am Rand des Waldes, wo auch die grauen Asphaltbahnen der Straßen entlangführten.
So manches Mal hatten sie dort gelauert und die seltsamen Gegenstände gesehen, die sich auf vier Rädern über die grauen Bänder bewegten.
Davor fürchteten sie sich, denn sie wußten, daß diese Gegenstände stärker waren als sie.
»Ich muß gehen!« ächzte Margot, erntete von ihrem Bruder keinen Widerspruch und verließ die Reste ihrer Totenkiste.
Der Earl of Luna sah ihr nach. Mit starren Blicken folgte er den ersten, unsicher wirkenden Schritten der Frau, er sah, wie sie stehenblieb, die Arme ausbreitete, sie dann in die Höhe streckte und sich reckte, als wollte sie die Schläfrigkeit der Jahrhunderte aus ihren Knochen vertreiben.
»Nacht!« sagte sie rauh. »Es ist Nacht. Ich sehe den Mond nicht, aber ich spüre ihn, denn er hat sich hinter den Wolken versteckt. Sein rundes Auge beobachtet uns, er will uns Kraft spenden und uns den Weg zum Blut der Menschen zeigen.«
Nach diesen Worten drehte sie sich um, starrte den männlichen Vampir an und zog die lappig wirkenden Lippen zurück. »Komm zu mir, Bruder. Komm zu deiner Schwester. Machen wir es so wie vor urlangen Zeiten. Gehen wir gemeinsam auf Jagd, denn ich habe nichts vergessen!«
»Unsere Rache«, erklang die dumpfe Antwort aus der offenen Totenkiste.
»Ja, unsere Rache an den Menschen!«
Der Earl of Luna ballte seine bleichen Hände. Er hatte lange, sehr spitze Finger, die fast wie kleine Messer wirkten, und als er die Fäuste vorstreckte, sprangen die Knöchel hervor.
Auch er verließ den zerstörten Sarg. Mit ebenfalls sehr vorsichtig gesetzten Schritten ging er auf seine Schwester zu, um ihr beide Hände auf die schmalen, knochigen Schultern zu legen. Eine Geste und ein Zeichen des Vertrauens. Er fühlte sich trotz der verflossenen Jahrhunderte
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