0444 - Die Nonne mit der Teufelsklaue
hatte einmal in den sauren Apfel gebissen und wollte ihn auch schlucken.
Deshalb ging er ihr nach. Als Rudy die Stelle erreicht hatte, wo ihm die Nonne zum ersten Mal erschienen war, suchte er auf dem Boden nach Spuren. Rudy fand keine. Dies bewies ihm wiederum, daß er sich nicht getäuscht hatte und er diese Nonne wohl als einen weiblichen Geist ansehen mußte, der verflucht war, in der Nacht zu spuken und auch zu morden.
Gegen das Spuken hatte er ja nichts, aber Morde konnte er nicht hinnehmen.
In diesen Augenblicken wuchs Rudy über sich selbst hinaus. Er unterdrückte seine Angst, denn er mußte die Nonne stellen. Mit dem Kreuz bannen, um ihr anschließend die verfluchte Mörderklaue abzuhacken. Das war die einzige Möglichkeit.
Dem jungen Mönch gelang es leider nicht, die kleine Kapelle lautlos zu betreten. Als er die Tür öffnete, vernahm er die knarrenden Geräusche der Angeln und unterdrückte einen wütenden Ausruf im letzten Augenblick.
In der Kirche war es ziemlich dunkel. Nur am Altar brannte ein Licht. Das Ewige Licht, die kleine Lampe, die einen rötlichen Schein abgab.
Wie ein Dieb in der Nacht schlich der junge Mönch an dem steinernen Weihwasserbecken vorbei und betrat den Mittelgang zwischen den beiden Sitzreihen.
Auf jeder Seite standen nicht mehr als fünf Holzbänke. Das Holz schimmerte hell. Es roch zudem feucht und auch noch nach dem letzten Anstrich.
Von der Nonne sah Rudy keine Spur. Auch nicht, als er vor dem schlichten Altar stand und die steinerne Erhöhung sah, auf die sonst immer der Sarg gestellt wurde.
Diesmal stand kein Sarg dort. Es schmückte auch kein Blumenstrauß die Kapelle, und die kleinen Fenster wirkten wie dunkle, abweisende Augen.
Rudy wußte, daß umgebaut wurde. Nicht nur die Bänke waren erneuert worden, man renovierte auch im Gebälk des Turms, das im Laufe der Zeit brüchig geworden war.
Sollte die unheimliche Nonne die Kirche nicht verlassen haben, konnte sie sich nur noch hinter dem Altar verborgen halten, wo sich der Aufgang zum Turm befand.
Eine Wendeltreppe aus Holz, bei der ebenfalls einige Stufen erneuert worden waren.
Rudy schlug ein Kreuzzeichen, bevor er sich in Bewegung setzte und den Altar an der linken Seite passierte. Er versuchte, seine Schritte so lautlos wie möglich zu setzen, aber durch das Öffnen der Tür hatte ihn die Nonne sicherlich schon gehört.
Rudy erreichte den dunkelsten Bereich der Kirche. Die Kapelle hatte nur einen Eingang, es gab keine Tür an der Rückseite.
Handwerker hatten ihre Spuren hinterlassen. Rudy lief gegen einen im Weg liegenden Holzbalken und machte ungewollt und laut auf sich aufmerksam.
Das paßte ihm gar nicht. Jetzt wußte die Nonne bestimmt, daß er sich in ihrer Nähe aufhielt, falls sie noch in der Kapelle lauerte.
Er traute sich nicht, sein Feuerzeug anzuknipsen. So blieb er in der Dunkelheit stehen und spürte die kühle Luft, die aus dem Turm wehen mußte.
Rudy hob den Kopf.
Mittlerweile hatte er sich auf die Dunkelheit eingestellt, und so konnte er den schmalen grauen Ausschnitt hoch über sich erkennen.
Das mußte ein Turmfenster sein, und es lag dort, wo sich auch die Glocke befand.
Die Nonne ließ sich nicht blicken.
Menschen haben Nerven, Geister haben keine, und so wurde es dem jungen Mönch allmählich zu bunt. Er wollte hier nicht eine halbe Ewigkeit stehenbleiben und warten, sondern sein Schicksal selbst in die Hand nehmen.
Seine Hand verschwand in der Seitentasche der Jacke und kam mit dem schmalen Feuerzeug wieder hervor.
Er zündete es an, schirmte die Flamme mit der Hand ab und konnte sich orientieren.
Rudy hätte nicht weitergehen können, denn der Weg war durch Holzstücke und Balken versperrt worden. Die Handwerker hatten eben alles zurückgelassen.
Und auch über die Treppe konnte er nicht. Zwei diagonal angebrachte Balken versperrten den Weg.
Damit die Handwerker den Turm betreten konnten, hatten sie eine Leiter aufgestellt, die in die Spitze führte. Die ersten Stufen konnte der Mönch noch sehen, die vierte verschwamm bereits in der Dunkelheit.
War die Nonne diesen außergewöhnlichen Weg gegangen?
Rudy wollte es wissen. Über Hindernisse stieg er jetzt leise hinweg. Er ging durch Sägespäne, die wie ein weicher Teppich den Boden bedeckten, und blieb vor der Leiter stehen.
Sein Blick glitt hoch. Zugleich hob er den Arm, um so weit wie möglich leuchten zu können.
Ein wenig mulmig war ihm schon zumute, als er die Leiter hochstieg. In der Linken hatte er sein
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