0449 - Chirons Höllenbraut
daß der Zentaur sich nicht so schnell wieder in Luft auflöste!
***
»Wenn Sie Julian suchen, der hat hinter sich abgeschlossen, Mademoiselle«, bedauerte Raffael Bois, den die Zwillinge auf dem Weg zu Uschis Sohn trafen.
»Abgeschlossen? Das ist neu! Warum macht er denn das?«
Der alte Diener zuckte mit den Schultern. »Diese Frage kann ich Ihnen leider nicht beantworten.«
»Aber die Tür aufschließen können Sie doch sicher?« wollte Uschi wissen, auf deren Klopfen Julian nicht reagierte.
»Selbstverständlich, wenn es Ihr Wunsch ist«, sagte Raffael. »Sofern der Schlüssel nicht von innen quer steckt.«
Anderen Gästen im Schloß wäre er nicht so gefällig gewesen, immerhin gehörte es sich nicht, jemanden in seiner Ruhe zu stören. Aber im Mutter-Sohn-Verhältnis dachte Raffael recht konservativ; seiner Ansicht nach sollten Eltern jederzeit Zutritt zu den Zimmern ihrer Kinder haben.
Raffael zauberte einen Universalschlüssel aus einer Westentasche, führte ihn ins Schlüsselloch und drehte. Dann zog er ihn wieder ab. »Bitte…«
Er klopfte aber vorsichtshalber selbst noch einmal, ehe er die Tür nach innen aufschwingen ließ und den Zwillingen Zutritt gewährte. Danach zog er sich diskret zurück. Was Mutter Uschi Peters mit Sohn Julian zu besprechen hatte, ging ihn nun wirklich nichts an. Er war auch nicht einmal neugierig. Für ihn war es nur wichtig zu wissen, wo sich diese drei Personen momentan befanden, damit er Auskunft erteilen konnte, wenn jemand danach fragte.
Da kam Uschi zurück. Ratlos.
»Er ist nicht da…«
»Bitte?« fragte Raffael verständnislos, weil er absolut sicher war, daß Julian sich in der Suite befand. Schließlich hatte ihn der Junge ja fast angerempelt, ehe er die Tür mit einem Knall hinter sich schloß.
Wer sich so zurückzog, der verschwand nicht innerhalb der nächsten zwei Minuten wieder.
»Aber wo steckt er dann? Die Fenster sind zu…«
»Er träumt wieder«, flüsterte Uschi bestürzt. »Das hatten wir doch schon ein paarmal, daß er von einem Moment zum anderen spurlos verschwunden war, aber erst durch Zamorra wissen wir, daß er in einer von ihm selbst geschaffenen Traumwelt verschwand, um darin zu agieren und am Ende des Traumes wieder zurückzukehren…«
»Und ich hatte gehofft, das wäre jetzt vorbei«, seufzte Monica. »Aber offenbar geht es weiter! Wohin soll das bloß noch führen?«
In die Zukunft sehen konnten sie beide nicht!
***
Nicole hatte den Dhyarra-Kristall aus Zamorras Arbeitszimmer und dem Safe holen wollen. Aber kaum betrat sie das Zimmer, als sie überrascht zurückwich. Mitten im Zimmer bewegte sich der Zentaur, den sie gerade eben noch unten bei Tanjas Grab gesehen hatte!
Oder gab es plötzlich zwei von diesen Biestern?
Er stand hinter Zamorras großem, geschwungenen Arbeitstisch mit Telefon, Computerterminal und Monitor, hatte den Drehsessel umgeworfen und interessierte sich für den Computer. Er zuckte bei Nicoles Eintreten nicht einmal zusammen, stieß nur ein böses Fauchen aus und beugte sich dann wieder über die Tastatur.
Rief er Daten ab?
Wofür interessierte sich diese Mischung aus Pferd und Mensch?
»Laß die Pfoten davon!« fuhr sie ihn an und betrat das Arbeitszimmer jetzt doch, von dessen großem Fenster aus man eine hervorragende Aussicht über das Loire-Tal hatte. Mit ein paar Schritten war sie am Arbeitstisch. Da flog der Pferdekörper hoch, bäumte der Zentaur sich auf! Aber sein Kopf stieß nicht an die Zimmerdecke. Dafür seine Hufe gegen den Monitor, dessen Bildschirm implodierte. Das Gehäuse zersplitterte. Hufe zertrümmerten die Tastatur und fegten das zerschlagene Telefon von der Platte. Dann schnellte der Zentaur sich mit einem Sprung aus dem Stand über den Tisch hinweg.
Wie er das in seinem aufgebäumten Zustand fertiggebracht hatte, wußte Nicole nicht. Sie konnte sich auch nur noch ducken und beiseite werfen. Der Zentaur sprang über sie hinweg. Er hätte gegen einen Schrank prallen müssen, aber er verschwand einfach durch die Wand.
So, wie er am Mittag auf dem Korridor neben der Bibliothek in der Wand verschwunden war!
Aber hinter dieser Wand befand sich kein anderer Raum, sondern gähnende Leere. Es war die Außenwand.
Nicole wäre fast von den Hinterhufen des Pferdekörpers noch gestreift worden. Sie sprang wieder auf, war mit einem Satz am Fenster und riß es auf, um nach draußen zu blicken. Aber dort unten lag kein zerschmetterter Zentaurenkörper, und es schwebte auch keiner durch
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