045 - Mörder der Lüfte
Zumindest durfte sie keine freundlichen Gedanken daran verlieren.
Und deshalb hatte sie diese Sperre errichtet. Immer, wenn ihre Träume sich mit den Dingen beschäftigten, die ihr lieb waren, wurde ein kreatürliches Angstgefühl in ihr übermächtig.
Sie wurde aus dem Schlaf gerissen.
So war ihr erster Gedanke auch: Hoffentlich habe ich mich durch meine Träume nicht verraten!
Erst als sie sich etwas beruhigt hatte, die bebenden Hände gegen ihren gewölbten Leib gepresst, widmete sie sich ihrer Umgebung.
Und wieder befiel sie diese Angst.
Wo war sie?
Der Raum, in dem sie sich befand, war ihr unbekannt. Sie war sicher, dass er zu keiner der Hütten auf dem Atoll gehörte, auf dem sie zusammen mit Olivaro lebte.
Der Raum war zehn mal sieben Meter groß. Drei Wände bestanden aus unbehauenen Steinen, die mit rötlichem Mörtel verbunden waren. Die vierte Seite des Raumes war nackter Fels. Also handelte es sich um eine Hütte, die an eine Felswand gebaut war.
Sie musste sich irgendwo in einem Gebirge oder in einem gebirgigen Hochland befinden. Nein, dies war nicht Olivaros Atoll.
Es gab links und rechts von ihr je ein Fenster, das mit einem Bastrollo verhangen war, und auch die Tür war mit einem solchen Vorhang verschlossen, der leicht im Wind schaukelte.
Außer dem schwachen Säuseln des Windes vernahm sie aus der Ferne vielstimmiges Vogelgeschrei. Möwen? War sie in der Nähe einer Steilküste?
Aber nein, die Vogelstimmen waren keine Hintergrundmusik – und Brandung war auch keine zu hören –, sondern sie dominierten. Die Vögel waren die Beherrscher dieses Landes. Das war aus ihrem Gekreische herauszuhören: Dies war ihr Reich.
Coco trug nur eine leichte Bluse und buntbestickte, ausgestellte Hosen. Die Kleidungsstücke stammten nicht aus ihrer Garderobe.
Über einem rohgezimmerten Stuhl lag ein breiter, bunter Wollschal, den sie vorher noch nie gesehen hatte und der sie an einen Rebozo der mexikanischen Indios erinnerte. Da sie fröstelte, legte sie sich den Rebozo über die Schulter.
Ihre Neugierde hatte inzwischen die Oberhand über ihre Angst gewonnen, und sie ging zur Tür, schob den Vorhang zur Seite und trat ins Freie.
Beim Anblick des eindrucksvollen Panoramas stockte ihr der Atem.
Die Luft war dünn und frisch, das war ihr schon nach dem Erwachen aufgefallen. Sie musste sich in einer Höhe von drei- bis viertausend Metern befinden.
Vor ihr breitete sich ein zerklüftetes Felsland bis zum Horizont aus, an dem sich Wolkengebirge wie ein in seiner Bewegung erstarrtes, wildschäumendes weißes Meer türmten.
Die tiefstehende Sonne färbte die zerklüfteten Felsen rötlich, warf scharfe, tiefschwarze Schatten. Die Canyons streckten sich unergründlich und geheimnisvoll vor ihr aus.
Sie trat weiter auf die Felsplattform hinaus, bis an den Abgrund, und von hier blickte sie eine senkrechte Felswand hinab in ein tiefes Tal.
Die schroffen Felswände schienen ein eigenes Leben zu besitzen. Doch dieser Schein trog und war darauf zurückzuführen, dass überall in Spalten, auf Vorsprüngen und in Mulden, in Kaminen und unter überhängenden Felsen unzählige Vögel nisteten.
Aber nicht irgendwelche Vögel, sondern ausschließlich Raubvögel. Zumindest konnte Coco von ihrem Standplatz keine andere Vogelarten sehen.
Sie entdeckte Falken, Bussarde, Geier, Kondore und verschiedenste Arten von Adlern. Raubvögel, die oft Tausende von Meilen voneinander entfernt in verschiedenen Gebieten lebten, waren hier auf einen Ort zusammengedrängt.
Ein Raubvogelparadies? Oder die Raubvogelzucht eines Dämons?
Die alten Ängste beschlichen sie wieder, und die Frage nagte in ihr, wie sie hierher gekommen war. Und wozu?
In der Luft herrschte ein Gewimmel von gefiederten Räubern. Sie kamen und flogen davon. Es herrschte ein heilloses Durcheinander. Aber alle Vögel folgten einer bestimmten Ordnung, denn es kam zu keinen Zusammenstößen oder Positionskämpfen.
Alle diese Lufträuber lebten in friedlicher Koexistenz.
Nachdem sie lange das eindrucksvolle Panorama betrachtet hatte und das Gefühl des Unheimlichen sie immer mehr beschlich, wandte sie sich nach rechts.
Die Hütte, in der sie aufgewacht war, klebte tatsächlich wie ein Adlerhorst am Fels. Es führte nur ein schmaler Pfad von ihr zu zwei anderen Häusern. Diese waren zwar etwas größer, aber ebenso primitiv. Dennoch erschienen sie Coco viel verlockender als diese Hütte, weil sie nicht so knapp an den schwindelnden Abgrund gebaut waren, sondern
Weitere Kostenlose Bücher