045 - Mörder der Lüfte
verstand. Aber dennoch war sie sich nicht sicher, ob Olivaros Worte nicht vielleicht eine tiefere Bedeutung hatten. Misstraute er ihr etwa, und sollten die Vögel sie vor Dorians Zugriff bewahren?
»Bist du jetzt traurig, kleine Coco?«
»Nein, nachdenklich. Ich frage mich, ob ich hier wirklich sicherer bin als auf deinem Atoll und was du damit bezweckst, mich hierher gebracht zu haben.«
Olivaro antwortete nicht sofort. Er wandte sich von ihr ab und blickte über das Hochland hinweg in die Ferne.
»Auch ich bin nachdenklich geworden seit den Vorfällen in dem entweihten Athoskloster«, sagte er schließlich. »Ich beginne, intensiv über dich nachzudenken, Coco. Aber ich werde mir nicht schlüssig über dich. Warum hast du nicht schon vor dem Initiationsritus gestanden, dass du von Hunter ein Kind erwartest? Wir hätten dann in aller Stille dieses Problem lösen können. Jetzt bin ich vor der ganzen Schwarzen Familie der Geschmähte, und ich muss mich von diesem Makel reinigen. Rechtfertige dich nicht! Ich will selbst dahinterkommen, warum du mir das angetan hast. Ich kann deine Handlungsweise vorerst nur damit entschuldigen, dass du eine ganz außergewöhnliche Hexe bist und ein viel komplizierteres Wesen, als ich je annahm. Das reizt mich sogar an dir, und wenn es sich so verhält, wie ich hoffe, dann bist du meiner erst recht würdig. Aber du hast durch dein unverständliches Verhalten alles nur kompliziert. Und jetzt musst du die Konsequenzen tragen.«
»Welche Konsequenzen?«
»Du sollst bis zur Geburt deines Kindes hier bleiben.«
»Und dann …?«
Olivaro sah sie durchdringend an. »Willst du mein sein, Coco?«
»Ja.«
»Willst du mit mir diese Welt regieren? Und willst du ehrlich allen menschlichen Schwächen wie Liebe und Treue entsagen?«
»Ja«, sagte Coco und dachte: Wie lange muss ich noch auf diese Weise sündigen und mich in Lügen verstricken? Aber sie würde noch viel mehr erdulden, um ihr Kind zu retten.
Olivaro nahm sie an der Schulter.
»Wenn es dir mit alledem ernst ist, Coco, dann musst auch du Opfer erbringen.«
Seine Worte versetzten sie in Panik, und beinahe hätte sie ihre Hände schützend vor ihren Leib gelegt, als sein stechender Blick darauf fiel.
Was Olivaro nun sagte, war für Coco wie ein Todesurteil:
»Du wirst dieses Kind unter dem Schutz der Vögel austragen. Und wenn es geboren ist, wirst du es mir zum Geschenk machen.«
Coco fühlte, wie sie die Kräfte zu verlassen drohten. Ihr schwindelte. Aber sie biss die Zähne zusammen und hoffte, dass Olivaro ihr die Schwäche nicht anmerkte.
»Jetzt will ich dich meinem Freund vorstellen«, hörte sie Olivaro wie aus weiter Ferne sagen. »Vergiss nicht, dich bei ihm zu bedanken! Denn er war es, der dich vor dem Sturz in den Abgrund bewahrte. Er lenkte zu diesem Zeitpunkt mit seinem Geist den Weißen Adler. Wenn du Enrique Castuto erst kennen gelernt hast, wirst du mir bestimmt beipflichten, dass er ein außergewöhnlicher Dämon ist.«
Coco betrat das Haus. Ihre Augen gewöhnten sich schnell an das Dämmerlicht, und sie war irgendwie erleichtert.
Sie konnte nicht sagen, was sie erwartet hatte. Vielleicht irgendein gefiedertes Monstrum, halb Mensch, halb Vogel.
Und wenn der Dämon, der sie erwartete auch keinen alltäglichen Eindruck machte – erschreckend wirkte er nicht auf sie.
Er ließ ihr Zeit, sich an seinen Anblick zu gewöhnen. Er stand eine ganze Weile da, damit sie ihn eingehend betrachten konnte.
Bevor sie jedoch in der Lage war, seine Erscheinung zu taxieren und sich ein Gesamtbild zu verschaffen, wurde sie von seinen Augen gebannt, von jener Stelle, wo andere menschliche Wesen Augen haben.
Enrique Castuto besaß keine. Nicht einmal seine Augenhöhlen waren zu sehen. Eine weiße, durchscheinende und bläulich geäderte Haut spannte sich darüber.
Er hatte keine Augen. Das war das einzig Anomale an ihm. Seine übrige Erscheinung war durchaus menschlich.
Er hatte das Gesicht eines Mestizen, die Haut war großporig und wettergegerbt, die Lippen voll, das dichte Haupthaar kräuselte sich an der Stirn vorbei bis tief über die Ohren hinunter.
Er war etwas größer als sie, ging leicht gebückt und hatte – das merkte sie, als er sich plötzlich in Bewegung setzte und mit einigen Schritten zu ihr kam – einen schleppenden Gang.
Es gab noch etwas Außergewöhnliches an ihm, aber das war nicht ein Körpermerkmal: Auf seiner linken Schulter saß ein Falke. Und dieser blickte Coco unverwandt an, so dass
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