045 - Mörder der Lüfte
sie das Gefühl hatte, Castillo betrachtete sie durch dessen Augen.
»Sie sind wirklich unglaublich schön, Coco«, sagte er mit leiser und doch deutlicher Stimme. Und wieder ruhte der Blick des Falken auf ihr. Nun gab es für Coco keinen Zweifel mehr, dass Castillo durch die Augen des Raubvogels sah.
»Wahrscheinlich haben Sie von Magus VII. einiges über mich erfahren«, fuhr er fort, »so dass es sich erübrigt, mich vorzustellen. Ich halte nichts von solchen Floskeln. Das ist was für die dekadenten Menschen.« Er seufzte. »Aber leider hat sich auch innerhalb der Schwarzen Familie eine gewisse Dekadenz breitgemacht.«
»Olivaro sagte, Sie seien ein Freund von ihm«, sagte Coco. Sie wusste nicht recht, ob sie den Falken ansehen sollte oder ob sie ihren Blick auf die Stelle richten sollte, an der Castillos Augenhöhlen von der blassen, geäderten Haut überzogen waren. Sie würde sich daran gewöhnen, wenn sie erst länger hier war, aber jetzt irrten ihre Blicke zwischen dem Falken und Castillo hin und her.
»Ja, ja, ein guter Freund von mir«, bestätigte Castillo. »Er hat nicht genug davon, in dieser schweren Zeit, in der viele sich in der Schwarzen Familie für den Posten eines Fürsten der Finsternis berufen fühlen. Aber für mich gibt es keinen besseren als Olivaro. Und deshalb heißt der Fürst der Finsternis für mich Magus VII. Sie wissen, warum er Sie zu mir gebracht hat?«
»Ja, ich glaube schon«, sagte Coco zögernd. »Olivaro hat mich in Ihre Obhut gegeben, weil er der Meinung ist, dass ich vor meinen Feinden nirgends sicherer sein kann als hier.«
Der Mund des Mestizen verzog sich zu einem spöttischen Lächeln. In den Augen des Falken blitzte es auf.
»Diese Erklärung ist so gut wie jede andere«, meinte Enrique Castillo. »Begnügen wir uns damit.«
Coco hob die Hand, zog sie aber sofort wieder zurück, als der Falke auf der Schulter des Blinden sich anschickte, mit dem Schnabel nach ihr zu hacken.
»Welche andere Erklärung könnte es denn noch geben?«, erkundigte sie sich.
»Lassen wir das«, entgegnete Castillo. »Ich möchte Ihnen mein Reich zeigen. Es kommt so selten jemand zu mir auf Besuch, dass ich jede Gelegenheit wahrnehme, um mit meinen Tierchen zu prahlen.«
Er ging an ihr vorbei zur Tür. Dabei drehte der Falke auf seiner Schulter den Kopf und ließ Coco nicht aus den Augen. Es war ein unheimliches Gefühl zu wissen, dass man von jemandem beobachtet wurde, auch wenn dieser einem den Rücken zudrehte.
»Ist es wahr, dass Sie all die vielen tausend Raubvögel, die in diesem Canyon wohnen, abgerichtet haben?«, erkundigte sich Coco, als sie ihm ins Freie folgte.
Der Falke wandte sich wie empört von ihr ab, während Castillo vor sich hinkicherte.
»Abgerichtet ist gut«, sagte er dabei. »Meine Liebe, all diese Vögel gehorchen mir aufs Wort! Jeder von ihnen und alle gleichzeitig, wenn es sein muss.«
»Heißt das, Sie können mit ihnen sprechen?«
Sie hatten das Ende der Plattform erreicht, und Castillo gebot ihr mit einer Handbewegung zu schweigen. Er gab einige seltsam klingende Zirplaute von sich, und auf einmal schwiegen die vielen Tausende von Vögeln im Canyon wie auf Befehl. Die Stille war unheimlich, und Coco überkam ein Gefühl, als sei sie mit Taubheit geschlagen. Aber da war noch der Wind, der über die zerklüftete Bergwelt pfiff.
Castillo gab wieder einige Vogellaute von sich und deutete auf die gegenüberliegende Schlucht, die etwa einen Kilometer entfernt war. Während alle übrigen Vögel wie zur Bewegungslosigkeit erstarrt innehielten, bewegte sich auf der gegenüberliegenden Felswand ein kleiner Punkt, kam rasch und mit hastig schlagenden Schwingen näher und entpuppte sich als mächtige Harpyie.
»Wenn die Adler die Könige der Lüfte sind, dann sind die Harpyien die Grazien der Luft«, erklärte Castillo schwärmerisch. »Und dabei sind sie nicht ungefährlicher als Adler. Diese Harpyie hier, die Ihnen den Willkommensflug darbringen soll, Coco, kann es mit jedem normalen Adler aufnehmen. Ich habe sie schon Dutzende Male in den Luftkampf geschickt, und immer ist sie als Sieger hervorgegangen.«
»Sie lassen Ihre Vögel auf Leben und Tod miteinander kämpfen?«, fragte Coco.
Castillo nickte.
»Es ist immer wieder ein erregendes Schauspiel. Das werden Sie sicherlich auch finden, Coco, wenn Sie erst einmal zuschauen durften. Aber ich lasse sie nicht allein deshalb miteinander kämpfen, um mich an dem Schauspiel zu ergötzen, sondern vor allem
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