0452 - Die finstere Seele
fuhr Tendyke fort. »Ich glaubte dich außerhalb des Flugzeugs zu sehen, Mir war, als würdest du durch die Druckzelle hindurch nach dem Mann greifen, der neben mir war, und ihn nach draußen zerren. Sag, daß ich das nur geträumt habe, Junge. Das kann nicht wahr sein.«
Julian antwortete nicht darauf. Er half seinem Vater beim Aufstehen.
Tendyke schürzte die Lippen. »Wie kommst du überhaupt hierher? Du solltest im Château Montagne sein! Ist dir nicht klar, wie gefährdet du außerhalb der Abschirmung bist? Jeder Dämon könnte…«
»… mich angreifen und versuchen, mich zu töten«, beendete Julian den Satz. »Aber du irrst dich, Robert. Mir droht keine Gefahr mehr. Gegen die, vor denen du glaubst mich schützen zu müssen, kann ich mich längst schon sehr gut selbst wehren. Ich bin viel stärker als sie. Wenn ich will, müssen sie mir gehorchen.«
Hier war kein Sturm, waren keine Wolken. Im Mondlicht war deutlich zu sehen, wie Tendyke erblaßte. »Was willst du damit sagen? Julian, du…« Seine Hand schoß vor, um nach dem Jungen zu greifen. Aber der drückte ihm im gleichen Moment das in die Hände, was der letzte Hilfsgeist noch suchen sollte, fand und seinem Herrn übergab.
»Hier, dein Hut. Ich denke, du würdest nur ungern auf ihn verzichten, nicht wahr?«
Unwillkürlich schlossen sich Tendykes Finger um die Krempe.
Im nächsten Moment löste Julian sich auf und kehrte in die Schwefelklüfte zurück. Er wollte keine Fragen beantworten. Sein Vater lebte; das zu wissen genügte ihm vorerst. Er hatte die Bevormundungen, Vorwürfe und Fragen satt. Er mochte seinen Vater, er liebte ihn auf seine Weise - aber er brauchte Distanz.
Deshalb kehrte er jetzt zurück, in seinem Vater einen ganzen Katalog voller Fragen zurücklassend.
Und er ahnte nicht, daß er verraten worden war…
***
Gryf hatte sich, nachdem er Zamorras und Nicoles Zimmertür hinter sich zuschlug, nicht in sein Zimmer versetzt, sondern per zeitlosem Sprung in die Liftkabine. Sein Ziel war die Hotelbar. Die Liftkabine war unten, war leer, und so fiel es nicht auf, daß er dort aus dem Nichts heraus entstand. Er trat hinaus, wandte sich nach links und erreichte die Bar.
Ein paar Gäste wandten sich nach ihm um. Einer verzog abfällig das Gesicht, als frage er sich, warum man Typen wie diesen blonden Burschen hier überhaupt herein ließ. Ein verwaschener Jeansanzug, Stiefel, ein wilder Schopf, der zeitlebens noch keinen Kamm gesehen zu haben schien… damit fiel Gryf hier zwischen Anzügen, Smokings und Abendkleidern durchaus auf.
Aber solche Kleinigkeiten hatten ihn noch nie gestört. Und die dämmerige Beleuchtung sorgte dafür, daß man auch nicht auf Anhieb seine schockgrünen Augen erkannte. Gewohnheitsmäßig hielt er zusätzlich die Lider halb geschlossen, als er direkt in eine Lichtinsel trat und sie durchquerte.
Oben in Zamorras Zimmer hatte er mit Whiskey angefangen; hier machte er mit Whiskey weiter. Pur und doppelstöckig. Nach dem dritten drückte er dem Bartender einen großen Geldschein in die Hand, nahm die ganze Flasche an sich und schenkte selbst ein. Das brachte ein besseres Maß pro Glas.
Oben hatte er mit seiner Druiden-Kraft darauf geachtet, nicht betrunken zu werden. Hier unten war ihm das egal. Er wollte den Alkohol spüren, nicht nur den Geschmack. Er wollte sich betrinken! Was er erlebt hatte, bedrückte ihn - sowohl seine Erkenntnis, daß Julian der Fürst der Finsternis geworden war, als auch die Tatsache, mit Zamorra und Nicole plötzlich zerstritten zu sein.
Aber es hatte sein müssen. Er wollte nicht immer nur zurückstecken und sich auf die Rolle des unbequemen Warners und Mahners beschränken. Irgendwo waren Grenzen, die jetzt überschritten waren. Zamorra und Nicole waren sicher zuverlässige, gute Freunde - und die waren selten. Bekannte konnte ein Mensch oder ein Druide viele haben. Aber Freunde - von denen gab's nur ganz wenige. Menschen, die für einen Freund alles tun würden, auf die man sich immer felsenfest verlassen konnte…
Aber Freunde mußten sich die Wahrheit sagen können. Und sie mußten begreifen können, unrecht zu haben.
Aber Zamorra und Nicole wollten das hier nicht begreifen. Sie würden mit offenen Augen in ihren Untergang marschieren. Gryf konnte sie nicht zu ihrem Glück zwingen.
Was, bei Merlins Bart, konnte er nur tun, um ihnen die wirkliche Gefahr begreiflich zu machen?
Er trank den vorletzten Whiskey. Die Flasche mit dem schwarzen Etikett war fast leer. Langsam
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