0455 - Der Zeit-Zauberer
Aber aus diesen Überlegungen heraus wollte Zamorra ihnen die grausame Wahrheit erst mitteilen, wenn sie wieder beisammen waren und sich gegenseitig Kraft geben konnten, damit fertig zu werden.
Ihre Telepathie konnten die Zwillinge nicht auf die Spur bringen, denn erstens hatten sie kein Interesse daran, unbefragt in der Gedankenwelt anderer Menschen zu forschen, und zweitens waren Zamorras und Nicoles Gedanken durch eine autosuggestive Sperre abgeschirmt, die allerdings vordringlich dazu diente, sich vor dem Gedankenlesen durch Dämonen und Hexer zu schützen.
Nicole mochte die Zwillinge durchaus - aber sie wollte auch einmal ein paar Tage lang nur mit Zamorra allein sein. Aber das schien momentan wieder mal nicht mehr zu funktionieren. Nun, sie hatten unten an der Loire glückliche Stunden verbracht.
Nicole ertappte sich dabei, daß sie immer wieder versuchte, den kreisenden Drachen über dem Château wiederzuentdecken. Aber dieser Drache blieb verschwunden. Als der BMW durch das Tor der Umfassungsmauer rollte, war Nicole sicher, daß es wirklich nur eine Luftspiegelung gewesen war.
Sie parkte den Wagen direkt vor dem Eingangsportal und stieg aus. Ihre Ankunft mußte beobachtet worden sein. Das Begrüßungskommitee erschien - die Peters-Zwillinge tauchten im Eingang des Hauptgebäudes auf.
»Hat Raffael den Frühstückstisch bereits gedeckt?« fragte Zamorra.
»Sicher. Er muß es förmlich gerochen haben, daß ihr gerade jetzt auftaucht«, sagte Uschi. »Kommt herein. Herzlich willkommen in eurem Schloß.«
Zamorra durchschritt die Eingangshalle und betrat den dahinter liegenden Korridor. Im nächsten Moment stolperte er über den schwarzen Knubbel, der wie eine Kegelkugel durch den Gang raste und mit ihm kollidierte.
***
Rologh, der Dämon, kreiste in seiner Drachengestalt über dem Château Montagne. Er suchte nach einer Möglichkeit einzudringen. So lange hatte er gewartet, so viele Jahre, und selbst wenn sie für ihn nur eine kurze Zeitspanne darstellten, wollte er doch jetzt endlich einen Erfolg sehen.
Doch etwas störte ihn: der weißmagische Schutzschirm, der wie eine Kuppel über dem Gebäudekomplex lag und ihn unangreifbar machte, und damit alles und jeden, der sich darin befand. Der Dämon fand keine Möglichkeit einzudringen.
Selbst dann nicht als zwei Menschen in einem Auto durch den weißmagischen Abwehrschirm fuhren. Rologh wollte ihnen unsichtbar folgen, drehte aber sehr schnell wieder ab, noch ehe er mit dem Abwehrschirm kollidieren konnte, in dem er zu Unrecht eine Öffnung vermutet hatte. Offenbar brauchten die Menschen keine Öffnung, sondern diffundierten so hindurch.
Aber für ihn, der schwarzes Blut in seinen Adern hatte, gab es kein Durchkommen. Er mußte weiter warten und auf einen Fehler seines künftigen Opfers hoffen.
Doch irgendwann machte jeder einen Fehler.
***
Zamorra stürzte, wurde herumgewirbelt und schlug mit dem Kopf gegen die Korridorwand. Benommen sank er zu Boden. Es war eines der ganz wenigen Male in seinem Leben, daß er so völlig überrascht wurde. Allerdings hatte er auch nicht mit einem Angriff gerechnet. Nicht hier innerhalb der geschützten Mauern von Château Montagne. Außerdem - war es überhaupt ein Angriff gewesen?
Was war das überhaupt?
Was auch immer es war - es entfernte sich mit schnellen, tappenden Schritten. Noch ehe Zamorra wieder klar sehen und denken konnte, flog eine Tür zu.
Der Professor raffte sich wieder auf. Jetzt war auch Nicole bei ihm. »Was ist passiert? Was war das?«
»Ich hatte gehofft, du hättest etwas mehr gesehen als ich«, brummte er und rieb sich den schmerzenden Kopf. Er merkte, daß ihm eine prächtige, schmerzhafte Beule als Andenken an diese seltsame Begegnung bleiben würde. »Ich habe nur etwas Schwarzes gesehen, das wie eine Kanonenkugel in mich hinein geschossen ist. Und da ist es hin.« Er wies auf die Tür.
»Hinterher!« entfuhr es Nicole. »Hoffentlich ist es nicht wieder eine so prachtvoll hinterhältige Überraschung wie letztens der Zentaur!« [1]
Zamorra erinnerte sich nur zu gut. Ein Zentaur, einer dieser Pferdemenschen aus der griechischen Sagenwelt, und seine Reiterin waren aus dem Nichts heraus im Château aufgetaucht. Trotz der Abschirmung! Später stellte es sich heraus, daß es sich um eine Traumprojektion von Julian Peters gehandelt hatte, der sich zu jener Zeit noch im Innern des Châteaus befand und begann, seine Fähigkeiten zu erproben, ehe er verschwand und die Hölle eroberte. Da
Weitere Kostenlose Bücher