046 - Der Schatten des Werwolfs
Pranke fest und setzte das rechte Bein auf das Fensterbrett. Geräuschlos sprang ich in den Raum. Die Frau bewegte sich und setzte sich auf.
Es war Coco, in deren Zimmer ich eingedrungen war! Für einen Augenblick war ich wie gelähmt. Und diesen Augenblick nutzte sie. Sie sprang aus dem Bett und griff nach einem Dolch, der auf einem kleinen Tischchen lag. In meinem Inneren herrschte völlige Verwirrung. Der Duft, die Gier nach Menschenfleisch und dazu meine Gedanken als Dorian Hunter, der sich seiner Gefährtin gegenübersah …
Coco hob den Dolch. Er war aus Silber. Das Mondlicht spiegelte sich in der Klinge, und die Kraft des Silbers veränderte mich. Ich prallte zurück, und Haarbüschel fielen mir aus.
Coco kam langsam auf mich zu.
Ich öffnete den Mund und gab einen krächzenden Laut von mir. Coco hob eine Hand und wollte zustechen.
»Nicht!«, rief ich. »Ich bin es, Dorian!«
Sie senkte den Dolch und starrte mich misstrauisch an.
»Du musst mir glauben, Coco«, beschwor ich sie. Meine Stimme war fast unverständlich.
»Das ist nicht möglich.«
»Es ist aber so. Ich kann es beweisen.«
»Ich höre zu«, sagte sie, ohne den Dolch zu senken.
Ich kämpfte noch immer gegen die Gier an, sie einfach anzuspringen und ihr die Kehle zu zerfetzen.
»Erinnere dich an unser Zusammensein in Wien!«, bat ich. »Als wir die Hochzeit mit Behemoth verhinderten.«
Cocos Augen blickten mich interessiert an. »Erzähle weiter!«
»Wir blieben noch einen Tag in Wien«, fuhr ich fort. »Wir hatten ein Zimmer im Imperial – Nummer 245. Wir waren essen und gingen kurz nach zehn Uhr auf unser Zimmer. Du trugst einen schwarzen Hosenanzug. Das Haar hattest du aufgesteckt.«
»Das kann fast jeder wissen. Was geschah dann?«
Ich erzählte es ihr. Es waren Einzelheiten, die nur ihr und mir bekannt waren. Ich merkte an ihrem Gesichtsausdruck, dass sie mir glaubte, doch sie sagte nichts.
»Ich bin nicht als Dorian Hunter auf diesem Atoll«, sagte ich abschließend. »Ich kam als Ronald Chasen hierher. Einer der Architekten, die für Olivaro den Palast bauen sollen. Du musst mir glauben!«
Coco wandte den Kopf nach rechts, so als würde sie etwas hören. Sie wandte sich ab. Der Dolch wurde von ihrem Körper verdeckt.
Meine Werwolfnatur siegte. Ich kämpfte dagegen an, doch das Verlangen war stärker. Ich hob meine Pranken und sprang los. Dabei fauchte ich und packte Coco an den Schultern. Der Dolch fiel zu Boden, und ich schnappte nach ihrem Nacken.
Eine Woche war seit dem Verschwinden Dorians vergangen. Im Wohnzimmer in der Jugendstilvilla hatten sich Cohen, Parker, Sullivan und Ronald Chasen versammelt. Für Chasen waren die vergangenen Tage ein nicht enden wollender Albtraum gewesen. Geistig gesehen war er ein Wrack. Meist saß er teilnahmslos herum und hing seinen trüben Gedanken nach. Mit Dorians Körper konnte er sich einfach nicht abfinden und mit dem Leben, das er führen sollte, schon gar nicht.
Vor Lilian spielte er seine Rolle als Dorian Hunter weiter, doch er sah sie kaum, dafür sorgten schon Cohen und Sullivan, die nicht wollten, dass Lilian erfuhr, dass ein Persönlichkeitstausch stattgefunden hatte.
»Wir sind keinen Schritt weitergekommen«, sagte Cohen wütend.
»Immerhin wissen wir, dass die Lorrimers nach Honolulu geflogen sind«, meinte Parker.
»Aber dann verwischen sich die Spuren«, entgegnete Sullivan ungeduldig. »Uns ist bekannt, dass sie in einem Haus außerhalb Honolulus gewesen sind. Das hat der Privatdetektiv feststellen können, den Parker beauftragt hat. Und wir wissen, dass die Lorrimers mit einer Jacht losgefahren sind und sich die fünf Architekten an Bord befanden. Aber wir wissen nicht, wohin die Jacht gefahren ist. Sie ist nirgends aufgetaucht.«
»Wir sollten nach Hawaii fliegen«, schlug Parker vor. »Vielleicht finden wir dort mehr heraus.«
»Das glaube ich nicht, Jeff«, meinte Sullivan. »Es ist sinnlos. Es bleibt uns nichts anderes übrig, als zu warten. Vielleicht meldet sich Dorian.«
»Ziemlich unwahrscheinlich«, brummte Cohen. »Wir wissen, dass die Lorrimers Werwölfe sind. Hunter wurde sicherlich infiziert und ist jetzt selbst ein Werwolf. Er steht ganz im Einfluss der Dämonen. Wahrscheinlich ist er völlig hilflos. In der Südsee gibt es Tausende von Inseln. Auf irgendeiner wird er sich befinden. Aber auf welcher? Wir haben keinen Anhaltspunkt. Doch wir müssen bald etwas herausfinden, sonst sehe ich für Chasen schwarz. Er schnappt uns noch über.«
Ronald
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