046 - Penelope von der 'Polyantha'
entflohener Sträfling! Das klang alles so unglaublich, so phantastisch, daß sie sich wohl zwanzigmal in der Nacht erhob und das elektrische Licht andrehte, um sich zu überzeugen, daß sie wachte und nicht das Opfer schrecklicher Halluzinationen war.
Was war aus Mr. Orford geworden? Sie wußte es nicht. Sie konnte ihre Gedanken nicht einmal so weit sammeln, um über ihre eigene Zukunft nachzudenken.
Am nächsten Morgen stand sie früh auf und ging an Deck, wo die Matrosen mit Wasserschläuchen und Bürsten tätig waren. Sie fand Mr. Orford in dem bequemsten Stuhl, der an Bord des Schiffes aufzutreiben gewesen war. Er hatte sich in viele Decken eingehüllt, war ebenfalls wach und in tiefe Gedanken versunken. Sie nahm an, daß er nicht gut auf sie zu sprechen sei, da sie sich indirekt für das tragische Ende seiner kühnen Pläne verantwortlich fühlte, aber er begrüßte sie mit einem freundlichen, fast väterlichen Lächeln.
»Ich bin überhaupt nicht zu Bett gegangen - ich habe auch nicht geschlafen«, sagte er erklärend.
»Bitte stehen Sie nicht auf«, bat sie ihn schnell, als er Miene machte, sich aus all seinen Decken herauszuwinden. »Ich kann mich hierher setzen.« Sie zog einen Stuhl herbei und ließ sich an seiner Seite nieder. »Mr. Orford, was bedeutet das alles?«
»Was es bedeutet? Sechs Monate harter Arbeit und eine halbe Million Dollar für die bestorganisierte Flucht, die die Welt jemals gesehen hat, sind zum Teufel gegangen!«
»Wollen Sie mir denn nicht endlich alles sagen?«
»Es ist ja jetzt doch kein Grund mehr vorhanden, warum Sie nicht alles wissen könnten.« Er winkte einem Matrosen. »Mein Sohn, gehen Sie einmal in die Küche und bringen Sie etwas heißen Kaffee«, wies er ihn an. Dann wandte er sich wieder an Penelope. »John ist der Lord von Rivertor. Als er zu zwanzig Jahren Zuchthaus verurteilt wurde, war er es noch nicht und hatte überdies nicht die leiseste Ahnung, daß er die nächste Anwartschaft auf diesen Titel hatte. Er ist sehr reich und begütert, ebenso Mr. Stamford Mills, sein Freund. Sie haben zusammen in Paris auf der Kunstakademie studiert, und seit Lord Rivertors Verurteilung hat dieser junge Mann alles aufgeboten, um ihn zu befreien. Ich selbst habe schon viel organisiert, aber noch niemals eine Flucht aus dem Gefängnis.«
Er machte eine Pause und schüttelte den Kopf.
»Der erste Unglücksfall begegnete uns, als Hollins Mütze davonflog. Alle englischen Sträflinge haben eine Nummer, die in die Kappen eingestickt wird.«
»Sie müssen mir aber alles von Anfang an erzählen. Warum wurde Lord Rivertor eigentlich verurteilt -welches Verbrechen hat er denn begangen?«
»Ich bin fest davon überzeugt, daß er überhaupt kein Verbrechen begangen hat«, sagte Mr. Orford mit Nachdruck. »Ich habe die Erfahrung gemacht, daß viele Leute unschuldig im Zuchthaus sitzen, die das Opfer eines widrigen Schicksals oder gemeiner Verleumdung sind. Als ich hörte, daß Lord Rivertor durch ein gemeines Komplott zu Fall gebracht worden war, fühlte ich sofort, daß hier wieder ein Justizirrtum vorliegen mußte. Er ist wirklich unschuldig.«
Mr. Orford war im Eifer aufgestanden und gestikulierte heftig.
»John war ein Künstler und ein Vetter dritten oder vierten Grades des alten Earls von Rivertor. Der alte Herr hatte drei Söhne, die alle innerhalb einer Woche an Lungenentzündung starben. Das klingt fast wie ein Märchen, aber sie sind tatsächlich eines natürlichen Todes gestorben. Ich habe mich sehr genau danach erkundigt, denn ich verdächtigte Mr. Dorban, daß er die Natur bei ihrem Vernichtungswerk unterstützt hätte.
John Rivertor wußte nichts von alledem. Er lebte als Maler und Zeichner in Paris und hatte sein Auskommen. Er war ein besonderer Spezialist für Radierungen. Möglich, daß er ein großer Künstler ist, möglich, daß er es nicht ist. Ich verstehe zuwenig von Kunst, um das beurteilen zu können.
Bei der Gerichtsverhandlung wurde nun folgender Tatbestand festgestellt: John verkehrte in einem Restaurant im Westen Londons. Der Eigentümer dieses Lokals hatte bei den verschiedensten Gelegenheiten gefälschte Fünfpfundnoten in seiner Kasse gefunden, konnte aber nicht genau sagen, von wem er die Scheine bekommen hatte. Der Verdacht fiel jedenfalls auf John. Mir ist es ganz unerklärlich, wie das möglich war, aber ich habe eine Vermutung, wer dieses Gerücht aufgebracht hat. Wahrscheinlich hat der Betreffende die falschen Noten selbst in Umlauf
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