0464 - Die grüne Göttin
sagte er. »Kümmern wir uns also besser um die Stelle, wo der Leichnam und auch das Skelett gefunden wurden, und vor allem um diesen ominösen Ben Smith.«
Nicole dachte an Shedo, von der sie geträumt und welche sie gezeichnet hatte. Sie fragte sich, ob es einen Zusammenhang zwischen diesen makabren »Fundstücken« und ihrem Traum gab, der so extrem realistisch gewesen war, daß sie die Traumgestalt hatte zeichnen müssen, um dieses Erlebnis zu bewältigen…
***
Pearly schrie nicht. Sie stand nur starr da, wie Lots Frau, die zur Salzsäule erstarrte, als sie sich nach dem feurigen Inferno umschaute, das Sodom und Gomorrha verschlang.
Sie versuchte das zu begreifen, was sie hier sah.
Ein fremder Toter in der Wohnung!
Und hatte sie nicht die Tür offengelassen, als sie heute früh ging?
»Charly?« fragte sie leise, dann etwas lauter. Aber wenn Charly hier wäre, er hätte sicher diesen Toten nicht einfach so hier liegen gelassen. Er würde aber andererseits auch nicht einfach so aus dem Haus gegangen sein. Was also war mit ihm?
Die dumpfe Ahnung, daß etwas noch schrecklicheres geschehen sein mußte als das, was sich hier vor ihren Augen abzeichnete, wurde in ihr immer stärker und sie zwang sich, an dem Toten vorbei zu gehen und einen Blick in die anderen Räume der Wohnung zu werfen.
Charly fand sie nicht, fühlte sich aber auch nicht erleichtert darüber, ihn nicht als Leichnam vorgefunden zu haben.
Sollte er den Einbrecher überrascht und getötet haben? Um daraufhin die Flucht zu ergreifen? Pearly wußte, daß er eine Waffe besaß. Sie hatte immer befürchtet, daß er sie eines Tages benutzen würde. Sie lehnte Waffen ab. Aber Charly war der Ansicht, daß es sicherer war, diese Waffe im Haus zu haben, um notfalls mit Einbrechern fertig werden zu können. »Bis die Polizei auftaucht, dauert es doch ohnehin immer eine Ewigkeit«, pflegte er zu sagen.
Pearly schluckte. Sie starrte den Toten an, versuchte eine Schußwunde zu erkennen. Aber sie fand nicht einmal eine Blutlache. Da näherte sie sich ihm wieder und sah als letztes auch noch in das kleine Badezimmer.
Und da lag ein Skelett!
Pearly schüttelte sich. Sie schloß die Augen und zählte bis zehn. Als sie sie wieder öffnete, lag das Skelett immer noch da.
Ein makabrer Scherz?
»Aber wenn, dann ist es keiner, über den ich lachen kann«, sagte sie leise. Plötzlich glaubte sie nicht mehr daran, daß der Tote echt war. Der mußte ebenso künstlich sein wie das Skelett. Einen erschlagenen oder erschossenen Einbrecher mochte man ja vielleicht in der Wohnung finden, aber daneben auch noch ein Gerippe? Das konnte nur ein übler Scherz sein. Aber wer trieb hier Schindluder mit ihrem Nervenkostüm?
Von Charly konnte sie sich das einfach nicht vorstellen. Der war nicht so unverfroren. Selbst wenn er böse auf sie gewesen wäre und ihr einen üblen Streich hätte spielen wollen, wäre er auf eine so perfide und abstruse Idee niemals gekommen. Da mußte jemand anderer im Spiel sein.
Aber wer?
Jetzt, wo sie sicher sein konnte, daß sie es nicht mit einem echten Leichnam zu tun hatte, überwand sie ihre Scheu endgültig und kauerte sich neben die so täuschend echt aussehende Puppe auf den Boden. Sie betastete sie. Alles war nachgiebig wie Gummi. Seltsam war nur, daß es sich wie echte Haut anfühlte. Das Haar fühlte sich echt an, wenn auch etwas verfettet, und die Augenlider waren mit Wimpern versehen. An den Lippen befanden sich winzige Bläschen und Hautschuppen. Schmutzränder unter den Fingernägeln. Und diese Gummipuppe roch auch nicht nach Gummi, sondern nach einem Mann, der seit ein paar Tagen keine Dusche mehr gesehen hatte.
Sie erhob sich wieder und ging zu dem Skelett. Auch das wirkte brillant echt und verzichtete sogar auf die Drähte, wie sie bei den Schulskeletten aus Kunststoff üblich waren, und…
Aber wie, zum Teufel, konnten die Knochen dann zusammenhalten?
Pearly erstarrte. Sie tastete nach den Knochen, aber ihr fehlten die Erfahrungswerte. Fühlten sie sich nun echt an oder nicht? Sie hatte noch nie blanke Menschenknochen in der Hand gehalten. Nur die von Tieren, gekocht oder gebraten und entsprechend weich. Aber diese Knochen hatte sie niemals so säuberlich abschaben können, daß nicht die geringste Fleischfaser daran haften blieb.
»Nein«, murmelte sie. »Ich… ich glaube, ich träume doch.«
Als sie sich erhob, stellte sie fest, daß ihre Knie zitterten. Sie schluckte heftig. Jetzt einen Schnaps trinken, aber nur
Weitere Kostenlose Bücher