0467 - Der Kristall der Macht
normalen Maßstäben zu erfassen. Er war kaum älter als etwa anderthalb Jahre. Im ersten Jahr seines Lebens war er vom Säugling zum körperlich Erwachsenen herangereift. Sein Geist war schon viel schneller erwachsen gewesen; hatte wie ein Schwamm alles Wissen in sich aufgesogen, an das er gelangen konnte. Er war das Telepathenkind . Kein normaler Mensch, sondern ein magisches Wesen. Die Höllischen hatten ihn gefürchtet und versucht, ihn zu vernichten, noch ehe er geboren worden war. Doch seine Eltern hatten dafür gesorgt, daß niemand ihn finden konnte, ehe er selbst für seine Sicherheit sorgen konnte.
Der Mann, vor dem er stand, war sehr alt. Im Schneidersitz hockte der Alte auf einem Sitzkissen und sah den Jüngling nicht einmal an.
»Ich bin Julian Peters, ehrwürdiger Lama«, sagte der Jüngling.
»Namen sind Äußerlichkeiten«, sagte der Alte. »Sie bedeuten nichts, sofern sie nicht Wahre Namen sind, die aus dem Inneren der Person kommen, die sie erkennen.«
»Lehrt mich zu verstehen, Ehrwürdiger«, sagte Julian.
Jetzt endlich hob der Lama den Kopf. »Warum sollte ich?«
»Ich bitte Euch darum, Ehrwürdiger«, sagte Julian leise.
Der Mönch lächelte in mildem Spott. »Was könnte ich dich lehren, Herr der Träume, dessen Diener die bösen Dämonen sind? Sage mir, was! Bist du nicht einer der Großen und Mächtigen, vor dem alle zittern?«
»Woher wißt Ihr das?« stieß Julian überrascht hervor.
Der Lama berührte seine Stirn. Er schloß die Augen. »Was siehst du, Julian Peters?«
»Einen weisen Mann mit geschlossenen Augen, Ehrwürdiger«, sagte Julian.
»Und doch sehe ich dich so klar vor mir, als hätte ich meine Augen geöffnet. Ich sehe dich mit meinem dritten Auge. Und ich sehe in dir ein Geschöpf voller ungezähmter Macht. Du bist eine Gefahr.«
»Für wen?« keuchte Julian bestürzt.
»Für jeden, solange du diese Kraft nicht in Schranken bindest«, erwiderte der alte Mönch gelassen. »Du bist jünger, als du scheinst. Du hast sehr schnell gelebt. Ich sehe es. Du lebst immer noch schnell. Nicht körperlich, sondern im Geist. Dein physisches Wachstum hat aufgehört. Doch du hast nicht gelernt, auch deinen Geist zu stoppen. Darum ist der Tod dein bester Freund, Julian.«
»Ich verstehe nicht«, sagte Julian.
»Wirklich nicht? Benutze dein esoterisches Wissen. Du hast viel gelernt, aber du hast nur wenig verarbeitet. Doch dabei kann dir niemand helfen. Das mußt du selbst tun.«
»Bitte, helft mir dabei, Ehrwürdiger«, murmelte Julian. Er verneigte sich tief.
Wer ihn noch vor wenigen Wochen gesehen hatte, wäre niemals auf den Gedanken gekommen, daß er dermaßen respektvoll einem Menschen gegenüber sein konnte. Er war ein Rebell, der sich den Konventionen entzog und seine eigenen Regeln aufstellte. Er war in der Lage, Traumwelten zu erschaffen, und in seinen Träumen konnte er alle Regeln außer Kraft setzen oder umgehen. Aber damit nicht genug, hatte er sich als Fürst der Finsternis auf den Höllenthron gesetzt. Er hatte unermeßliche Macht und eiskalte Arroganz gezeigt. Und jetzt kam er als Bittsteller in dieses tibetische Kloster am Dach der Welt.
»Du verlangst zuviel«, sagte der Lama ruhig. »Ich kann dir nicht helfen.«
»Warum nicht?« fragte Julian entgeistert.
»Es gibt nur eines, was ich dich jetzt lehren könnte«, sagte der Lama.
»Was?«
»Geduld«, sagte der Kahlköpfige.
»Lerne Geduld, lerne, langsamer zu leben. Du hast mehr Zeit, als du glaubst. Willst du wirklich den Tod als deinen besten Freund? Lerne Geduld, lerne, daß es viele Dinge gibt, die du nicht schon heute tun mußt, sondern erst in vielen Tagen. Lerne zu erkennen, wann es an der Zeit dafür ist. Das ist alles, was ich dir zu sagen habe, Julian Peters, der sich selbst nicht kennt.«
»Aber gerade deshalb bin ich hier«, stieß Julian verzweifelt hervor. »Ich will lernen, mich selbst kennenzulernen! Ich muß es. Ihr habt recht, Ehrwürdiger. Ich habe zu schnell gelebt, ich bin zu schnell groß geworden. Ich habe viel nachzuholen.«
Der Lama öffnete die Augen wieder.
»Bitte…«
Julian sank vor dem alten Mann auf die Knie. »Ich bin in dieses Land gekommen, zu Eurem Kloster, weil ich lernen will, mich selbst zu finden.«
»Und darüber ignorierst du deine Verantwortung«, sagte der Lama. »Du bist ein Egoist. So kann ich deine Bitte nicht erfüllen. Mehr habe ich dir nicht zu sagen.«
»Aber…«
Julian sprach ins Leere.
Der Platz vor ihm, wo der Alte eben noch im Schneidersitz
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