0476 - Kalis tödlicher Spiegel
zerstören.
Lachten die Gestalten vor mir über meine vergeblichen Versuche? Fast hatte ich den Eindruck. Der Wind jedenfalls, der in mein Gesicht fuhr, schien mir ein ähnlich klingendes Geräusch aus der Ferne herbeizutragen. Und das Geräusch blieb. Ich hörte es hinter mir, meine Nackenmuskeln zogen sich zusammen, gleichzeitig veränderte sich der Laut, wurde zu einem Rauschen, das die gesamte Luft erfüllte.
Flügelschlag!
Während der Drehung sah ich den gewaltigen Schatten in der Luft. Es war ebenfalls ein Vogel, der aus einem dichten Wolkenberg herausstieß und matt schillerte.
Aber kein Totenvogel, auch wenn er den Tod bringen würde. Es war Garuda, der Adler, der Todfeind der Höllengöttin Kali…
***
Der Adler Garuda - Fürst der Vögel. Todfeind der Schlangen, der Inkarnation des Bösen. In alter Zeit hatte er dem Gott Wischnu als Reittier gedient, er hatte den Menschen Schutz vor den Göttern der Unterwelt gegeben und hatte Kalis Macht eingeschränkt.
Er trat in verschiedenen Gestalten auf. Mal als Vogel, dann wiederum als eine Mischung aus Vogel und Mensch.
Hier kam er als der, den ich kannte, denn nicht zum erstenmal stand er mir zur Seite. Auch ich hatte schon auf seinem Rücken gehockt und war in die Weite der Dimensionen getragen worden.
Wer ihn gerufen hatte, wußte ich nicht, nur freute ich mich, daß er überhaupt da war und mit gewaltigen Flügelschlägen Kurs auf uns nahm. Er zeigte sich mir als eine Mischung aus Mensch und Tier.
Statt einer Nase wuchs aus seinem Gesicht ein gewaltiger Schnabel, der gleichzeitig als Mund diente und in einer geschwungenen Linie darin überging. Er besaß Arme und Beine wie ein Mensch, doch auf seinen Armen wuchsen die mächtigen Flügel, die es ihm erlaubten, die Lüfte zu durchstreifen. Sein Federkleid schillerte in zahlreichen Farben, und auf seinem Kopf wuchsen dicke Strähnen, die an tote Schlangen erinnerten, die er umgebracht hatte.
Seine Augen zeigten eine ebenfalls dunkle Farbe, und sie bewegten sich während des Flugs wie Kreisel. Er war gekommen, um mir zu helfen, Kali sollte nicht triumphieren.
Auch ihre Diener hatten ihn gesehen.
Sie schrieen nicht, ihre Angst äußerte sich in einem stummen Entsetzen. Beinahe zeitlupenhaft langsam bewegten sie sich zur Seite. Sie wollten dem Vogel entkommen, der mit der Gewalt eines Unwetters auf sie zuraste und sich ihrer bemächtigte.
Urplötzlich war er über ihren Köpfen. Mir wurde der Blick genommen, ich wollte das Schaurige auch nicht sehen, sah das heftige Flattern der Flügel und die ruckartigen Bewegungen seines Kopfes, wobei der Schnabel zuhackte.
Auf der Spiegelfläche tobte ein lautloser Kampf ohne Erbarmen. Der Adler rechnete auf furchtbare Art und Weise mit den Dienern der Totengöttin ab.
Einmal nur sah ich, wie eine Frau entkommen wollte, aber ein Schnabelhieb stoppte sie und schleuderte sie zu Boden. Sofort peitschte eine lange Zunge aus dem Maul und rollte sich wie ein Gummischlauch um den Körper.
Es gab sie nicht mehr.
Und es gab auch die anderen nicht. Als sich der mächtige Adler umdrehte, sah ich keinen der Diener mehr.
Mir wurde die Kehle eng. Zwar hatte ich nicht genau mitbekommen, was geschehen war, aber Garuda konnte die Menschen nur verschluckt haben - oder?
Nein, er hatte es nicht getan. Sie waren von ihm mit ungeheurer Kraft in die Unendlichkeit des Himmels geschleudert worden. Ich sah sie als kleine Punkte in die Wolken steigen, wo sie plötzlich aufglühten und verbrannten.
Gleichzeitig bewegte sich die Wolke. Zwar entstand dort kein direktes Gesicht, dennoch bekam ich den Eindruck, als würde ihr unterer Rand aus einem Maul bestehen, das aufgeklafft war.
Ich bekam die Erklärung auf geheimnisvolle Art und Weise geliefert. Garuda, der sich telepathisch verständigte, erklärte mir, daß Saranja, die Wolkengöttin sein Flehen erhört habe und ihm als Schutz zur Seite stand. Kali sollte nicht siegen.
»Sie hat aber gesiegt!« rief ich laut und deutlich. Der Adler würde mich auch so verstehen.
Er drehte seinen Hals. Übergroß kam mir der Schnabel vor. An manchen Stellen schimmerte er wie dunkles Gletschereis. Die Zunge schaute nicht mehr hervor, in seinen Augen las ich eine Aufforderung, die mir schon einmal gegeben worden war.
Ich verstand ihn und kletterte auf seinen Rücken. »Wirst du es schaffen?« rief ich und dachte daran, daß ich schon einmal auf ihm geritten war. Damals hatte ich auf dem Dach eines Hauses gestanden, in dem ich wohnte. Ich beugte
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