05 - Denn bitter ist der Tod
hatten; vielmehr waren sie die Folge einer schicksalhaften Entwicklung, die in den vergangenen zehn Monaten so rasch vorangeschritten war, daß sie nichts hatte unternehmen können, um sie aufzuhalten. Jetzt aber, jetzt konnte sie sie mit einem einzigen Telefonanruf beenden, und er wünschte sich, daß sie das endlich akzeptierte, auch wenn ihm klar war, daß sie in diesem Anruf ein Abwälzen der Verantwortung sah. Auch wenn er nicht leugnen konnte, daß er sich unter ähnlichen Umständen wahrscheinlich genauso gefühlt hätte.
Schließlich konnte er nicht länger vor dem Spiegel stehen bleiben, ohne daß es seltsam gewirkt hätte. Er legte die Bürste aus der Hand und drehte sich herum. Sie hörte die Bewegung und blickte auf.
»Es tut mir leid, daß ich mich verspätet habe«, sagte sie hastig. »Ich weiß, daß Sie dauernd für mich einspringen. Ich weiß, daß das nicht ewig geht.«
»Darum geht es nicht, Barbara. Hier springt einer für den anderen ein, wenn es private Probleme gibt. Das versteht sich doch von selbst.«
»Das Komische ist», sagte sie, »daß sie heute morgen völlig normal war. Die Nacht war ein Horror, aber heute morgen war sie ganz klar. Ich hoffe dauernd, daß dies ein positives Zeichen sein könnte.«
»Und was war gestern nacht? Was machen Sie hier für Ausweichmanöver, Barbara?«
Sie starrte ihn an. »Wie kann ich ihr ihr Zuhause nehmen, wenn sie nicht einmal begreift, was vorgeht? Das kann ich ihr nicht antun. Sie ist meine Mutter, Inspector.«
»Aber es ist doch keine Bestrafung.«
»Warum kommt es mir dann so vor? Schlimmer noch, warum fühle ich mich wie eine Verbrecherin, die ungeschoren davonkommt, während sie die Strafe auf sich nehmen muß?«
»Weil Sie es im tiefsten Innern tun möchten, vermute ich. Das sind doch die schlimmsten Schuldgefühle, wenn man auszuloten versucht, ob das, was man tun möchte - was im Augenblick oberflächlich betrachtet selbstsüchtig erscheint -, auch das Richtige ist? Wie soll man erkennen, ob man wirklich ehrlich ist oder sich nur etwas vormacht, um die Situation so lösen zu können, wie es den eigenen Wünschen entspricht?«
Sie wirkte zutiefst niedergeschlagen. »Das ist die Frage,
Inspector. Und ich werde niemals die Antwort wissen. Ich bin einfach überfordert.«
»Nein. Sie haben es in der Hand. Sie können entscheiden.«
»Ich kann ihr nicht wehtun. Sie begreift es doch nicht.«
Lynley klappte seine Aktentasche zu. »Und was begreift sie in der gegenwärtigen Lage, Sergeant?«
Damit hatte die Diskussion ein Ende. Auf dem Weg zu seinem Wagen berichtete er ihr von seinem Gespräch mit Victor Herington, und ehe sie einstieg, fragte sie: »Glauben Sie, daß Elena Weaver überhaupt jemanden geliebt hat?«
Er schaltete die Zündung ein. Die Heizung pustete kalte Luft auf ihre Füße. Lynley dachte an Heringtons letzte Worte »Versuchen Sie, es zu verstehen. Sie war nicht böse, Inspector. Sie war nur zornig. Und ich jedenfalls kann sie dafür nicht verdammen.«
»Obwohl Sie für sie in Wirklichkeit nur Mittel zum Zweck waren?« hatte Lynley gefragt.
»Ja«, hatte er geantwortet.
Jetzt sagte Lynley: »Wirklich kennenlernen können wir das Opfer eines Mordes nie, Sergeant. Zum Kern - zur inneren Wahrheit - können wir niemals vorstoßen. Am Ende haben wir nur Fakten und die Schlüsse, die wir aus ihnen gezogen haben.«
Er konnte in der schmalen Straße den Bentley nicht wenden, deshalb fuhr er langsam und vorsichtig im Rückwärtsgang zur Trinity Lane hinaus.
»Aber wieso wollte er sie heiraten, Inspector? Er hat gewußt, daß sie nicht treu war. Sie hat ihn nicht geliebt. Er kann doch nicht im Ernst geglaubt haben, daß diese Ehe gutgehen würde.«
»Er hat geglaubt, seine Liebe würde ausreichen, um sie zu ändern.«
Sie lachte verächtlich. »Die Menschen verändern sich nicht.«
»Aber natürlich tun sie das. Immer dann, wenn die Veränderung ansteht.« Er lenkte den Wagen an der St. Stephen's Kirche vorbei in Richtung zum Trinity College. Sie bewegten sich im Schneckentempo vorwärts. »Das Leben wäre herrlich einfach, wenn es Sex nur aus Liebe gäbe, Sergeant. Tatsache ist jedoch, daß die Menschen den Sex für alles mögliche gebrauchen, und das meiste davon hat mit Liebe, Ehe, innerer Bindung, Intimität und dergleichen überhaupt nichts zu tun. Elena gehörte zu diesen Menschen. Und Herington war offensichtlich bereit, das zu akzeptieren.
»Aber was konnte er sich denn von einer Ehe mit ihr erwarten?« fragte
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